USA nähern sich Lateinamerika an
3. Juni 2013Wenn in Lateinamerika von den USA die Rede ist, sprechen die Menschen häufig nur vom "Norden". Je nach Land schwingt darin Hoffnung, Ehrfurcht oder Verachtung mit. In der US-amerikanischen Außenpolitik wurden die Staaten Lateinamerikas oftmals als eine Art "Hinterhof" betrachtet. Fast ein Jahrhundert lang hat die Supermacht den Süden kulturell, politisch und wirtschaftlich beeinflusst. Im neuen Jahrtausend schwand dieser Einfluss, die USA und Lateinamerika suchten Kontakte in anderen Teilen der Erde. Nun scheint die Regierung Obama verlorenen Boden wieder gut machen zu wollen.
Massives Networking
Erst empfing US-Außenminister John Kerry seinen brasilianischen Amtskollegen Antônio Patriota in Washington, dann flog US-Vizepräsident Joe Biden nach Brasilien, um sich mit Unternehmern und Präsidentin Dilma Rousseff zu treffen, außerdem besuchte er Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos in Bogotá und machte einen Abstecher auf die Karibikinsel Trinidad und Tobago zu einer Sitzung mit regionalen Politikern.
Das Tagesgeschäft eines US-Vizepräsidenten - könnte man meinen, würde US-Präsident Barack Obama Lateinamerika nicht auch zur Chefsache machen: Anfang Juni wird er hintereinander Sebastián Piñera und Ollanta Humala, die Präsidenten von Chile beziehungsweise Peru, in Washington empfangen. Im Oktober will er dann Brasiliens Staatsoberhaupt Dilma Rousseff willkommen heißen, die schon im April 2012 einmal informell in Washington vorbeigeschaut hatte.
Jahrelange Sendepause
Rousseffs Besuch kommenden Herbst wäre der erste große Staatsbesuch eines brasilianischen Staatsoberhaupts im Weißen Haus, seit sich Bill Clinton 1995 dort mit Fernando Henrique Cardoso traf.
Dazwischen liegen eine Menge Ereignisse, die die Beziehungen abkühlen ließen: acht Jahre George W. Bush und sein außenpolitischer Fokus auf den Krieg gegen die Achse des Bösen, 14 Jahre Hugo Chávez, dem es gelang, den halben Kontinent gegen die USA aufzustacheln. Und was die aufstrebende Hegemonialmacht Brasilien betrifft: acht Jahre Lula da Silva, der mehr um einen Ausgleich zwischen den weltpolitischen Lagern bemüht war als um eine enge Bindung an die USA. Statt der Nord-Süd-Beziehungen stärkte er den Süd-Süd-Dialog mit Afrika und knüpfte wirtschaftliche Bande mit China und Europa.
Orientierung nach China und Europa
Ähnliches gilt für andere Länder der Region: Vor allem die Länder der Pazifik-Allianz Kolumbien, Chile, Peru und Mexiko haben weitverzweigte und freizügige Handelsabkommen mit der Europäischen Union, China und anderen Ländern unterzeichnet.
"Lateinamerika gilt als traditioneller Machtbereich der Vereinigten Staaten. Diese Vormachtstellung verlieren die USA jedoch zusehends an Europa und China", beobachtet der brasilianische Ökonom Evaldo Alves.
Rückbesinnung auf den Kontinent
Als Barack Obama im März 2011 nach Brasilien und Chile reiste, lief gerade der internationale Militäreinsatz in Libyen - und so gingen seine Worte von einer Partnerschaft auf Augenhöhe ein wenig unter. "Während seiner ersten Amtszeit hat Obama den Fokus auf den Nahen Osten gelegt. Nun scheint er vom Krieg gegen den Terror abzurücken", glaubt der Historiker Virgílio Arraes von der Universität Brasília.
Auch für US-Vize Joe Biden hießen die Aufgaben auf seiner Lateinamerika-Reise nach Worten des Weißen Hauses wieder: "Wege, die Wirtschaftsallianz zu stärken", "die Prosperität beider Länder" und die "Zusammenarbeit auf bilateraler, regionaler und globaler Ebene verbessern". Der Brasilianer Eduardo Mariutti, Wirtschaftsprofessor der Universität Campinas, zweifelt allerdings am Willen der USA zu einer egalitären Partnerschaft: "Es ist das alte Lied: Es geht darum, die Vorherrschaft der USA in der Region wieder zu stärken."