Upgrade für US-Atombomben in Büchel
26. März 2020"Ich sehe mich als Ziel möglicher Angriffe", sagt Elke Koller mit Unbehagen in der Stimme. Die Rentnerin wohnt in der Nähe des Luftwaffen-Stützpunkts Büchel in Rheinland-Pfalz im Südwesten Deutschlands; die Übungsflüge der Kampfjets kann sie hören. Doch der Lärm stört sie weniger als die Tatsache, dass auf dem nahen Fliegerhorst Atombomben lagern. Es sind die letzten amerikanischen Atombomben, die noch auf deutschem Staatsgebiet verblieben sind. 15 bis 20 sind es nach Schätzungen von Experten, die genaue Zahl ist geheim.
"Anfangs glaubte ich, dass die Bomben in zwei oder drei Jahren weg sein würden", erinnert sich die 77-jährige Friedensaktivistin an die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges. "Ich dachte, die haben nur vergessen, sie abzuräumen." Doch die Atombomben sind heute noch in Büchel. Sie lagern in unterirdischen Grüften, bewacht von schwer bewaffneten US-Soldaten. Ein neugebauter, massiver Zaun schützt die Anlage. Bald bekommen die Atombomben sogar ein "Lifting": Sie werden gegen ein neues, schlagkräftigeres Modell ausgetauscht.
Unter dem "nuklearen Schutzschirm"
Während des Kalten Krieges hatten die USA Westeuropa großflächig mit Atomwaffen bestückt, um die Sowjetunion von einem Angriff abzuhalten. Viele dieser Waffen zog die US-Regierung nach 1991 ab, beließ aber ein Kontingent von heute geschätzt 150 Atombomben in Europa. Die sind auf mehrere Länder verteilt: Italien, die Türkei, Belgien, die Niederlande und Deutschland.
Dass sie im kleinen Ort Büchel mit seinen gut 1200 Einwohnern liegen, wissen viele Deutsche nicht. Auch Friedensaktivistin Elke Koller war das nicht klar, als sie 1980 in die Gegend zog: "Das war ein totaler Schock für mich." Erst Mitte der 1990er Jahre hat sie aus der Presse davon erfahren. Die Bundesregierung hat nie offiziell bestätigt, dass Atombomben in Büchel lagern.
Von deutschen Piloten zum Ziel geflogen
Büchel ist nicht ohne Grund als Standort ausgewählt worden: Hier ist das "Taktische Luftwaffengeschwader 33" der Bundeswehr stationiert. Käme es zu einem Angriff mit Atomwaffen, würden Piloten der Luftwaffe die Atombomben mit deutschen Tornado-Kampflugzeugen ans Ziel fliegen und abwerfen.
"Nukleare Teilhabe" heißt dieses Modell, durch das der Nicht-Atomwaffenstaat Deutschland an den Atombomben der USA partizipieren kann. Die Aufgaben sind dabei klar verteilt: Die Codes zum Scharfmachen der Atombomben kennen nur US-Militärs, ihr Abwurf aber wäre die Aufgabe deutscher Soldaten.
Abschreckung mit alten Flugzeugen
Die Atombomben seien "ein klares Abschreckungssignal für jeden potenziellen Gegner", heißt es in der Nuclear Posture Review, in der die US-Regierung im Februar 2018 ihre Nuklearstrategie beschrieb. Doch sind die Bomben in Büchel wirklich abschreckend?
Die deutschen Kampfflugzeuge vom Typ Tornado, die für ihren möglichen Abwurf vorgesehen sind, wurden in den 1980er Jahren gebaut. Heute sind sie technisch überholt und reparaturanfällig. Experten bezweifeln, dass sie die hochmoderne russische Luftabwehr überwinden könnten. Die längst überfällige Entscheidung über einen Nachfolger für den alternden Tornado hat die Bundesregierung bisher nicht getroffen.
Militärisch seien die Atomwaffen, die in Deutschland lagern, "mit Sicherheit kein sogenannter Game Changer", folgert Tobias Lindner, Verteidigungsexperte der Grünen im Bundestag. Also nicht entscheidend für den militärischen Erfolg oder Misserfolg. Lindner hält sie vielmehr für einen "teuren, gefährlichen und antiquierten symbolischen Beitrag, um innerhalb der NATO mitreden zu können".
Informationsaustausch in der NATO
In den Händen der NATO liegt die strategische Planung für den nuklearen Schutzschirm über Westeuropa. Genauer gesagt in der Nuklearen Planungsgruppe, in der die Verteidigungsminister aller NATO-Staaten sitzen - mit Ausnahme der Atommacht Frankreich, die auf eigenen Wunsch nicht teilnimmt. Dort informieren die USA ihre Verbündeten regelmäßig über den Stand ihrer Nuklear-Planungen. In diesem Gremium der NATO mitreden zu dürfen, sei für Deutschland äußert wichtig, betonen Mitglieder der Bundesregierung immer wieder.
Auch Atomwaffen-Experte Hans Kristensen, einer der besten Kenner der Materie weltweit, hat dieses Argument von Vertretern des deutschen Verteidigungsministeriums gehört. "Sie glauben, das gebe ihnen die Möglichkeit, das Denken der USA über den Einsatz von Atomwaffen zu beeinflussen", sagt Kristensen. Der dänische Wissenschaftler ist Direktor des Nuclear Information Projects bei der Federation of American Scientists in Washington. "Soweit ich das beurteilen kann, ist das eine völlige Fantasie."
"Ohne Deutschland bricht das zusammen"
Er habe noch von keinem Vertreter der US-Armee oder des Pentagons gehört, der "spezielle deutsche Ansichten über den Einsatz von Atomwaffen berücksichtigt" habe, betont Kristensen im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Politiker der Regierungsparteien in Berlin widersprechen: "In dem Moment, in dem wir uns zurückziehen, wird uns keiner mehr fragen, wie die Nuklearstrategie der NATO weiterentwickelt werden soll", sagt etwa Verteidigungspolitiker Fritz Felgentreu, der für die Sozialdemokraten im Bundestag sitzt.
Aber es gehe nicht nur ums Mitreden und den Zugang zu Informationen, betont NATO-Kenner Heinrich Brauß. Bis Juli 2018 beriet der heute pensionierte Generalleutnant das Verteidigungsbündnis auch in Fragen der Abschreckung. "Wenn Deutschland aus der nuklearen Teilhabe und Lastenteilung aussteigt, dann steigen die anderen Länder wie Belgien, Italien und die Niederlande auch aus", vermutet Brauß, der in der NATO beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung war.
Ohne ein militärisch so wichtiges Land wie Deutschland, "würde das gesamte System aufs Schwerste erschüttert oder bräche ganz zusammen". Denn, argumentiert Brauß, "warum sollten dann die USA das nukleare Risiko allein tragen, wenn es um den Schutz Europas geht?"
Der Russland-Faktor
Vor zehn Jahren, am 26. März 2010, hatte der Bundestag die Bundesregierung mit großer Mehrheit aufgefordert, sich "mit Nachdruck für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen". Doch keine der drei Bundesregierungen, die seither unter der Führung von Kanzlerin Angela Merkel amtierten, hat diesen Schritt gewagt. Seit Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert und nuklearfähige Mittelstreckenraketen im Westen Russlands stationiert hat, scheint ein Abzug der Bomben unwahrscheinlicher denn je.
"Wir demonstrieren damit, dass wir an der Seite der Amerikaner stehen", sagt ein Tornado-Pilot der Bundeswehr, der lange in Büchel stationiert war. "Wenn wir nicht mehr mitmachen würden, würden die USA großen Druck auf uns ausüben." US-Präsident Donald Trump lässt bekanntlich keine Gelegenheit aus, von den europäischen NATO-Verbündeten ein größeres Engagement für ihre eigene Sicherheit einzufordern.
Teures Modernisierungsprogramm
Zehn Jahre nach dem Bundestagsbeschluss steht die Modernisierung der US-Atombomben vom Typ B61-3 und B61-4 an, die gut 30 Jahre alt und am Ende ihrer Lebensspanne angelangt sind. Sie sollen durch die brandneue B61-12 ersetzt werden, die lenkbar ist und Ziele dadurch viel genauer treffen kann. Nach Ansicht von Atomwaffen-Experte Kristensen ist das "ein bedeutender militärischer Vorteil".
Geschätzte zehn Milliarden Dollar geben die USA für das gesamte Modernisierungsprogramm aus. "Es gibt Berechnungen, nach denen es billiger wäre, die Bombe aus massivem Gold zu bauen", betont Kristensen.
"Operation Bombentausch"
Kritiker befürchten nun, dass mit den neuen, präziser einsetzbaren Bomben die Gefahr eines Nuklearangriffs steigen könnte. "Ich persönlich bin sehr bange, dass der Ost-West-Konflikt wieder voll aufflammt" sagt Elke Koller, die für ihren Einsatz gegen Atomwaffen 2019 den Aachener Friedenpreis bekommen hat. Auch Rüstungsexperte Tobias Lindner von den Grünen hält das "Überschreiten einer nuklearen Schwelle" mit der neuen Generation von Atomwaffen für eher denkbar.
Wann die neuen Atombomben im kleinen deutschen Ort Büchel ankommen, steht noch nicht fest - Experten rechnen damit frühestens ab dem Jahr 2022. In jedem Fall werde der Austausch der Bomben unter der größtmöglichen Geheimhaltung stattfinden, mutmaßt ein Pilot der Luftwaffe, der den Fliegerhorst in Büchel kennt wie seine Westentasche. "Dann ist der Flugplatz gesperrt, und es kommt ein amerikanisches Flugzeug - und man weiß nicht, ob es Coca-Cola gebracht oder Bomben abgeholt hat."