Im jüdischen Berlin
12. Juni 2012Mit einem Gefühl zwischen verblüfft und peinlich berührt starte ich in meinen Spaziergang durch das jüdische Berlin. Denn als ich mir morgens die Route für den Tag zurechtlege, stelle ich fest: Die einzige koscher zertifizierte Bäckerei der Stadt liegt genau 550 Meter von meiner Haustür entfernt – und ich wusste von nichts. Seit 2002 stellt die Bäckerei Kädtler im Viertel Prenzlauer Berg koschere Backwaren her. Bei Brot und Brötchen ist hier das ganze Sortiment koscher (gekennzeichnet mit einer Menora, dem siebenarmigen Leuchter), bei Kuchen und Teilchen die Hälfte.
Koscher – das heißt in diesem Fall "unter vollständigem Verzicht auf nicht natürliche Inhaltsstoffe, Quellmehle und Rohstoffe tierischen Ursprungs, mit Ausnahme von Eiern, gebacken". Also superbio. Und daher sind die Kunden, so erklärt man mir, zwar zu einem Drittel Juden, aber auch zu einem Drittel Veganer und zu einem Drittel Menschen, die einfach bewusst essen und einkaufen. Montags und freitags kommen Rabbinerschüler oder der Gemeinderabbiner, um symbolisch den Ofen zu entzünden und zu kontrollieren, ob die jüdischen Speisevorschriften eingehalten werden. Der Bäcker selbst ist übrigens Protestant.
Mit einem koscheren Brötchen im Magen mache ich mich auf zum ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee. Er wurde 1827 eingeweiht zwischen Äckern, heute liegt er mitten in der Stadt hinter einer Mauer und flankiert von Wohnhäusern.
Ein grüner Rückzugsort, ein schattiges Wirrwarr aus Efeu, Ahorn, Farn, Kastanien, Buchen und teils überwucherten Grabsteinen. Bis der Friedhof 1880 geschlossen wurde, waren hier 22.500 Einzelgräber und 750 Erbbegräbnisse angelegt worden. Das bekannteste Grab ist das der Familie Liebermann, in dem auch der Maler Max Liebermann bestattet wurde. Auf diesem Friedhof könnte man mehrere Stunden verbringen. Am besten mit einer Übersicht über die bekanntesten Grabmäler, wie sie auf der Kultur-Karte "Jüdisches Leben", einem kommentierten Stadtplan, zu finden ist oder im Reiseführer "Das jüdische Berlin" von Bill Rebinger.
Erinnern an deutsch-jüdische Geschichte
Wer in Berlin auf den Spuren jüdischen Lebens unterwegs ist, kreuzt immer wieder die touristischen Pfade, findet Wegweiser und Infotafeln, auch zum jüdischen Leben in Berlin. Oder entdeckt die so genannten Stolpersteine, kleine, in den Gehweg eingelassene beschriftete Gedenktafeln aus Messing, die für Opfer des Nazi-Terrors vor deren einstigen Wohnhäusern verlegt werden. Das Projekt, gedacht als dezentrales Denkmal, geht auf den Künstler Gunter Demnig zurück, allein in seiner Heimatstadt Berlin liegen schon mehr als 3.500 solcher Steine.
An eindrücklichen Denkmälern mangelt es in Berlin-Mitte nicht: Am Koppenplatz etwa stoße ich auf das Denkmal für die ermordeten Berliner Juden: "Der verlassene Raum". Ein Tisch und zwei Stühle auf Parkettfußboden, alles in Originalgröße. Einer der Stühle liegt umgeworfen am Boden, so als wäre jemand überstürzt aufgesprungen. Um den Fußboden läuft eine Inschrift mit Versen der Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs. Ein beklemmendes Szenario.
Die Gretchenfrage
Auf der Suche nach einem Ort zum Mittagessen finden sich nur wenige Meter voneinander entfernt zwei für das jüdische Berlin typische Strömungen. Im alt eingesessenen Beth-Café in der Tucholskystraße gibt es israelische und jüdische Spezialitäten – alles koscher – und sehr guten Kaffee. Außerdem kann man im Sommer schön im Hof sitzen. Doch bin ich der einzige Gast und ziehe daher noch eine Straßenecke weiter. Zum Deli "Mogg & Melzer", der zwar erst ein paar Wochen alt ist, aber schon stadtbekannt für seine Pastrami-Sandwiches: ein Klassiker der jüdischen Küche New Yorks, so wie die gesamte Karte hier – allerdings nicht koscher.
Und doch kommen gerade in diesen zurückhaltend-geschmackvoll eingerichteten Imbiss erster Klasse besonders häufig Gäste und fragen nach koscherem Essen. Denn die Inhaber Oskar Melzer (geboren in München, seine israelische Mutter unterrichtet dort Hebräisch) und Paul Mogg bespielen einen Teil der im Februar neu eröffneten Ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße.
Auch für die Reichen und Schönen
Das denkmalgeschützte Gebäude von 1928 gehört der Jüdischen Gemeinde Berlin, die seit einigen Jahren nach einem wirtschaftlich rentablen Nutzungskonzept suchte und im Galeristen Michael Fuchs einen Pächter fand, der bereit war, fünf Millionen Euro zu investieren, um das schöne Beispiel der Neuen Sachlichkeit vor dem Verfall zu retten und aus der Schule ein Galeriehaus mit teuren Lokalen gemacht hat. Brad Pitt, Angelina Jolie, Julian Schnabel, die Liste der Gäste hier ist lang – das Konzept scheint zu funktionieren.
Michael Fuchs, der Hausherr, hat sich für seine Galerie den schönsten Raum gesichert: die ehemalige Aula mit riesigen Fenstern auf beiden Seiten. Er lässt sich neben einer Vase mit charakteristisch duftenden, weißen Lilien in einen tiefen Sessel fallen. "Das ist hier alles ganz natürlich entstanden", sagt er auf meine Frage, wie sich sein Konzept in das jüdische Leben in Berlin integriert. "In Berlin ist fast jede Ecke irgendwie historisch" und das habe man respektiert – ohne sich den Kopf zu zerbrechen. Fuchs wollte ein interessantes Haus mit Qualität auf allen Etagen. Und die Jüdische Gemeinde hat ihm freie Hand gelassen. Und so verlässt etwa der Besucher den Deli mit einem Pastrami-Sandwich im Magen und steht direkt vor der Fotowand mit der Geschichte des Hauses – und musste dafür noch nicht einmal durch die Sicherheitsschleuse. Kann man so machen.
In einem der hinteren Zimmer der Ehemaligen Jüdischen Mädchenschule, dem früheren Biologieraum, lädt "The Kosher Classroom" freitags zum Shabbat-Dinner ein. Den Gast (Nichtjuden sind ausdrücklich dazu eingeladen) erwartet ein koscheres Vier-Gänge-Menü – das traditionelle Kerzenanzünden, der Segen über Wein und Brot, Händewaschen und unterhaltsame Erläuterungen gibt's inklusive.
Durch den Abend führt der Maschgiach Leonid Golzmann, er ist so etwas wie der Koscher-Inspektor, kontrolliert also im Vorfeld die Lebensmittel und ihre Zubereitung und möchte heute Abend denjenigen, die es noch brauchen (denn natürlich kommen auch Juden hierher), die Berührungsängste vor den jüdischen Ritualen nehmen. Ich lausche einer Diskussion zwischen einem Tiermediziner – selbst Jude und Vegetarier – und dem Maschgiach darüber, wie schmerzvoll das Schächten, das rituelle Schlachten, für die Tiere ist. Und esse dabei meine Kalbsschulter auf und nippe an meinem Chardonnay aus Israel.
- Bill Rebiger: "Das jüdische Berlin", Jaron Verlag, 239 Seiten, ISBN 978-3-89773-413-5, 12,95 Euro
- Hermann Simon: "Jüdisches Berlin", Jüdische Presse gGmbH, ISBN 978-3-935097-09-3, 2,60 Euro.