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Freier Kopf, freie Kunst

Nadine Wojcik11. Juni 2012

Endlich Auszeit vom Nahost-Konflikt: Berlin ist ein Zufluchtsort für Künstler aus Israel. 60 Jahre nach dem Holocaust empfinden manche Israelis die deutsche Hauptstadt sogar als den "sichersten Ort für Juden".

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Der israelische Fotograf Benyamin Reich erklärt eine seiner Fotoarbeiten, die im Jüdischen Museum Berlin Teil der Sonderausstellung "Heimatkunde" sind (Foto: DW/N.Wojcik).
Bild: DW/N.Wojcik

Benyamin Reich lächelt sanft und sucht wohlüberlegt nach den passenden Worten. "Ich weiß gar nicht, ob es wirklich die Stadt Berlin ist, die ich mag - oder ob ich mich in Berlin mag." Der Israeli sitzt an einem großen Holztisch in seinem Atelier, das direkt an der ehemaligen Mauer zwischen dem Ost- und West-Berlin liegt. "Ich fühle mich frei hier. Die Stadt ist so roh und gibt mir das Gefühl, dass ich sie mitgestalten kann", sagt Reich.

Der Fotograf lebt seit 2009 in Berlin, doch Israel und vor allem das Judentum ist in vielen seiner Arbeiten präsent, wie beispielsweise das fotografierte Stillleben eines Sabbatbrots oder ein Stapel von alten, religiösen Schriften. Benyamin Reich ist Sohn eines Rabbiners und ist gemeinsam mit zehn Geschwistern in einer orthodoxen Gemeinschaft aufgewachsen - ein "Ghetto", wie er es nennt. Heute verzichtet er auf die typischen Erkennungszeichen seines Glaubens. Doch die Männer auf seinen Fotos tragen weiterhin schwarze Hüte und Gebetslocken. "Meine Kindheitserfahrungen drängen sich in meine Arbeiten. Sie sind ein Teil von mir, auch wenn ich eigentlich versuche, mich davon zu lösen", sagt der 34-Jährige. Eine weitere Fotoarbeit zeigt beispielsweise einen jungen Juden mit nacktem Oberkörper und Gebetsriemen am Unterarm. Orthodoxe Juden erkennen darin einen Teil ihres Morgenrituals, für Außenstehende mag der nackte Oberkörper eher eine zarte, erotische Konnotation haben.

In Israel sind solche Fotos regelrechter Zündstoff und sorgen für Kontroversen. Sie zeigten nicht den nötigen Respekt vor den jüdischen Ritualen, heißt es dort häufig. In Berlin wird allein die künstlerische Qualität der Arbeiten bewertet. Das Jüdische Museum zeigte sie in der Sammelausstellung "Heimatkunde", das Foto des jungen Juden mit Gebetsriemen war auf den offiziellen Flyern und Postern zu sehen. Eine neue Erfahrung für Reich: "Der Abstand und diese neue, unbefangene Perspektive - von außen - machen es mir viel einfacher, auf mein früheres Leben zu blicken."

Fotoarbeit von Benyamin Reich. Sie zeigt den nackten Rücken eines Juden und den Unterarm mit Gebetsriemen (Copyright: Benyamin Reich, T'filin schel jad, 2005).
Benyamin Reich: T'filin schel jad, 2005Bild: Benyamin Reich

Ganz ohne Probleme verlief Benyamin Reichs Umzug nach Berlin nicht. Sein Vater, ein vielgereister Rabbi, hatte sich bislang immer geweigert, auch nur einen Fuß nach Deutschland zu setzen und deshalb bei seinen Reisen manchmal komplizierte Umwege genommen. Zu mächtig war für ihn die Erinnerung an die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg.

"Der sicherste Ort für Juden"

Benyamin Reich hat sich von diesen familiären Erinnerungen und Befangenheiten gelöst. "Es zieht derzeit sehr viele israelische Künstler nach Berlin. Die meisten denken dabei überhaupt nicht an die Vergangenheit - das fällt ihnen erst ein, wenn sie bereits hier sind." Ein Prozess, den der Fotograf auch bei sich selbst bemerkt hat. Unweigerlich habe er sich seit seinem Umzug mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt und zu verstehen versucht, wie es zum Holocaust kommen konnte. Seine Großeltern, geflohen aus Ungarn und Polen, hatten nie über ihre traumatischen Erfahrungen gesprochen. Aber sie hatten ihre Kinder und Enkel stets davor gewarnt, jemals nach Deutschland zu reisen.

Benyamin Reich sitzt auf einer bunten Couch in seinem Berliner Atelier (Foto: DW/N.Wojcik).
Benyamin Reich in seinem Berliner AtelierBild: DW/N.Wojcik

Die Kriegsvergangenheit sei in Berlin viel präsenter als in Israel, belasten würde sie ihn aber nicht. "Deutschland ist der sicherste Ort für Juden", sagt Reich scherzhaft, aber bestimmt. "Das Schlimmste ist hier ja schon passiert." Benyamin Reich ist nicht der einzige israelisch-jüdische Künstler, der sich von der traumatischen, deutschen Vergangenheit gelöst hat. Berlin erlebt derzeit einen regelrechten Boom an Zuwanderung aus Israel, die deutsche Hauptstadt zieht die dritte Generation nach dem Holocaust magisch an.

Die Gegenwart zählt

Einer von ihnen ist auch der Grafikdesigner Gabriel S. Moses, der nach Berlin gekommen ist, da er für sein Erstlingswerk, eine experimentelle Graphic Novel, in Israel keinen Verlag gefunden hatte. "In der israelischen Verlagswelt gibt es für meine Arbeiten keinen Platz, da sie zu künstlerisch und nicht kommerziell genug sind." Mittlerweile hat Gabriel seinen zweiten Comicroman "Subz" in Berlin veröffentlicht - ein autobiografisches Buch über den Teenager-Alltag an der Waffenstillstandslinie zwischen Israel und den autonomen palästinensischen Gebieten.

Portraitfoto von Gabriel S Moses, Comiczeichner und Grafik Designer aus Israel (Foto: DW/N. Wojcik).
Gabriel S. Moses liebt den Berliner FreiraumBild: DW/N.Wojcik

Israel und vor allem die Kritik am derzeitigen Konflikt bleiben auch in Berlin Thema seiner Arbeiten. "Ich wünsche mir natürlich, dass wir endlich Lösungen finden. Doch leben kann ich dort nicht mehr." Zwar sei sein Leben nicht in Gefahr gewesen, aber es seien vor allem die Künstler, die unter der politisch angespannten Situation leiden. "Ich habe mich in Israel gefühlt, als ob ich ständig angeschrien werde." In Berlin hingegen spüre er eine große Toleranz und Interesse an künstlerischen Visionen. Hier sei er in der Gegenwart angekommen. Die Vergangenheit stehe an zweiter Stelle.

Letztendlich haben auch Benyamin Reichs Eltern dem gegenwärtigen Berlin eine Chance gegeben und ihren Sohn besucht. "Es fiel ihnen schwer, da meine Großeltern ihnen sozusagen verboten hatten, jemals nach Deutschland zu fahren. Aber ich glaube, es war eine sehr wichtige Reise für sie." Positiv überrascht war seine Mutter vor allem von der Synagoge, die nur wenige Schritte von Benyamins Atelier entfernt liegt. Er besucht sie regelmäßig - und ist damit Teil einer neuen Generation von Berliner Juden.