"Menschen in Falludscha traumatisiert"
30. Mai 2016DW: Herr Geddo, wie ist die Situation für die Menschen in Falludscha?
Bruno Geddo: Es ist beängstigend. Da ist zum einen die Belagerungssituation der Stadt. Die Menschen haben uns erzählt, dass sie in Panik leben: Falludscha wurde bombardiert, es gab Luftschläge und Raketenfeuer. Denen, die den Mut aufbringen zu fliehen, droht eine sofortige Exekution, wenn sie von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates dabei ertappt werden. Jene, denen es gelingt, durch die eingerichteten Fluchtkorridore zu entkommen, sind tief traumatisiert, wenn sie das Flüchtlingslager erreichen.
Wie sieht es mit Essen und medizinischer Versorgung in der Stadt aus?
Die Menschen in Falludscha sind in sehr schlechter physischer Verfassung. Seit Beginn der Belagerung im Dezember 2015 sind die Preise für Nahrungsmittel explodiert: Ein Kilogramm Reis kostet jetzt 85 Dollar (etwa 76 Euro), ein Sack mit 50 Kilogramm Mehl eine Million irakische Dinar, also etwa 700 Dollar (knapp 629 Euro). Das ist unerschwinglich. Manche Frauen mahlen verfaulte Datteln zu Mehl, damit sie irgendetwas backen können. Viele suchen im Müll nach etwas Essbarem. Die ganze Situation hat dazu geführt, dass einige Frauen aus lauter Verzweiflung Selbstmord begehen. Ich habe von einer Mutter gehört, die ihre beiden Kinder und danach sich selbst im Fluss Tigris ertränkt hat, weil sie nicht mehr wusste, wie sie überleben soll.
Wie geht es den Kindern in Falludscha?
Sie sind extrem traumatisiert. Die Kinder nehmen wahr, welche Angst ihre Eltern haben. Sie erleben Krieg, Bombardements, Raketen. Nach dem, was mir die Leute erzählt haben, ist es für sie so, als hätten sie buchstäblich die Hölle erlebt.
Wie viele Menschen leben noch in Falludscha und was könnte passieren, wenn die irakischen Streitkräfte wirklich bis in die Stadt vordringen?
Nach unseren Schätzungen ist es am Montag mehr als 750 Familien gelungen zu entkommen. Als die Belagerung begann, lebten noch etwa 60.000 Menschen in Falludscha. Ich denke, dass bislang etwa 11.000 fliehen konnten. 40.000 bis 50.000 befinden sich also noch dort.
Die irakischen Behörden und die irakischen Streitkräfte sprechen sehr vernünftig miteinander darüber, wie man sicherstellen kann, dass das internationale Völkerrecht gewahrt wird. Es wurden Fluchtwege gekennzeichnet und Flugblätter verteilt, auf denen die Bevölkerung davor gewarnt wurde, dass eine Rückeroberung der Stadt bevorsteht. Wer nicht fliehen kann, der soll eine weiße Flagge hoch halten. Wir wissen von einigen, denen es so gelang zu flüchten.
Aber: Je nachdem, wie stark der Widerstand der Islamisten sein wird - wir wissen, dass sie Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzen - könnte alles in einem riesigen Blutbad enden. Bislang ist das aber nicht passiert. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die irakischen Sicherheitskräfte alles tun, um das zu verhindern.
Wie bekommen Sie Ihre Informationen? Die Stadt ist schließlich belagert.
Wir haben ein bestimmtes System, das sich "Rapid Protection Assessment" nennt. Wir arbeiten dabei mit lokalen Nichtregierungsorganisationen zusammen, die Kontakte direkt in der Stadt haben. In Falludscha gibt es ja weder eine Internet- noch eine Telefonverbindung. Wie Sie sich vorstellen können, sind diese Informationen aber lückenhaft und schwer zu verifizieren. Unsere primären Quellen sind die Menschen, denen es gelingt zu fliehen und unser Camp zu erreichen.
Wie geht es denen, die den Islamisten entkommen können?
Sie können es zunächst kaum glauben, dass sie es geschafft haben. Viele bedanken sich unentwegt bei Gott dafür, dass sie ihrem sicheren Tod entronnen sind. Um in Sicherheit zu gelangen, müssen die Menschen 30 Kilometer laufen. Viele flüchten in der Nacht und ziehen die Schuhe aus. Sie laufen also die ganze Strecke barfuß. Es ist ein unfassbares Risiko, das sie auf sich nehmen, um in Sicherheit zu kommen.
Bruno Geddo ist Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im Irak. Er ist in Bagdad stationiert. Geddo und seine Kollegen haben 30 Kilometer vor Falludscha ein Flüchtlingscamp errichtet, wo sie dem Krieg jeden Tag ins Auge blicken. Wegen der schlechten Verbindung kommt das Telefonat erst nach mehreren Versuchen zustande.
Das Interview führte Nastassja Shtrauchler.