Ungarn: Warnung vor LGBTQ-Kinderbuch
25. Januar 2021Ein lesbisches Aschenputtel, ein schwarzes Schneewittchen und ein schwuler Prinz. Das ist die Welt des Kinderbuchs "Märchenland für alle" ("Meseország mindenkié"). Anders als traditionelle Märchengeschichten will es auch Minderheiten und gesellschaftliche Randgruppen abbilden. Doch der rechtsnationalistischen Orbán-Regierung ist das Buch ein Dorn im Auge. Sie will es nun mit einem Warnhinweis versehen. Die Käufer würden getäuscht, erklärte das Regierungsbüro der Hauptstadt Budapest vor einer Woche (19.1.2020). "Das Buch wird dem Titel und dem Einband entsprechend als Kinderbuch verkauft, aber es wird nicht gesagt, dass die Märchen Motive zeigen, die von den traditionellen Geschlechterrollen abweichen", so die Regierungsbehörde. Gleichzeitig verpflichtete sie den Herausgeber des Buches, den Lesben-Verband Labrisz, jegliche Exemplare von "Märchenland für alle" mit einem entsprechenden Warnhinweis zu versehen. Labrisz bezeichnete den Erlass in einer Stellungnahme als "diskriminierend" und "verfassungswidrig". Zudem erklärte sie, die Entscheidung gerichtlich anfechten zu wollen.
Schon nachdem "Märchenland für alle" Ende September vergangenen Jahres erschienen war, hatte das Buch für Aufsehen gesorgt. Die stellvertretende Vorsitzende der rechtsradikalen Partei "Mi Hazánk", Dóra Dúró, hatte ein Exemplar vor laufenden Kameras geschreddert.
Wie auch Dúró, bezeichnete Kanzleramtsminister Gergely Gulyás das Werk als "homosexuelle Propaganda" und erklärte, er wolle rechtlich gegen Einrichtungen vorgehen, die das Buch zu Lehrzwecken benutzen. Auch Premierminister Viktor Orbán selbst hatte sich an der Debatte beteiligt. Er erklärte, Ungarn toleriere Homosexualität, forderte allerdings: "Lasst unsere Kinder in Ruhe".
Die politische Furore um das Buch hatte zur Folge, dass das Buch auf der ungarischen Bestsellerliste landete. Die ursprüngliche Auflage von 1500 war innerhalb von zwei Wochen vergriffen. Mittlerweile wurden rund 30.000 Exemplare verkauft. "Viele haben das Buch nicht für ihre Kinder gekauft, sondern aus Protest gegen die Regierung", sagt Dorottya Rédai, Koordinatorin des Buchprojekts, im DW-Gespräch. "Mit dem Kauf stellen sie sich symbolisch gegen Ausgrenzung, Sexismus und Homophobie in diesem Land."
LGBTQ wird zum Feindbild stilisiert
Anders als in Polen, wo die LGBTQ-Community schon lange zum Feindbild stilisiert wird, hatte die ungarische Regierung das Thema bislang selten aufgegriffen. Das scheint sich nun zu ändern. Im Mai vergangenen Jahres wurde Transsexuellen gesetzlich untersagt, ihr Geburtsgeschlecht ändern zu lassen. Im Dezember schrieb die Orbán-Regierung die Verfassung um und hielt darin fest, dass "die Mutter [eine] Frau und der Vater [ein] Mann" zu sein habe. Gleichzeitig wurde das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare eingeschränkt. Bereits 2019 hatte der Sprecher der ungarischen Nationalversammlung, László Kövér, homosexuelle Paare, die Kinder adoptieren wollen, mit Pädophilen verglichen.
Politische Beobachter erwarten, dass die Orbán-Regierung die Beschneidung von LGBTQ-Rechten in den kommenden Monaten noch ausweiten wird. "Wir sehen Anzeichen dafür, dass die Fidesz-Partei eine Kampagne gegen die sogenannte 'Gender-Ideologie' startet", sagte der Politikwissenschaftler Dániel Mikecz vom Budapester Republikon Institut vergangene Woche bei einem Pressegespräch unter anderem der DW. Damit werde sie mit Blick auf die Wahlen im Frühjahr 2022 versuchen, ihre Wähler emotional anzusprechen und Stimmen zu gewinnen. "Anders als 2017 hat die Orbán-Regierung keine Migrationskrise, die sie politisch für sich nutzen kann", so Mikecz.
Auch Dorottya Rédai befürchtet, dass die LGBTQ-Community immer mehr ins Kreuzfeuer gerät. "LGBT-Menschen scheinen sich gut als Feindbild für die Regierung zu eignen", sagt sie. Ständig werde versucht, sie mit der Gefährdung von Kindern in Verbindung zu bringen. "Das ist der politische Trick. Denn alle Eltern wollen doch ihre Kinder vor Gefahren beschützen", so Rédai.
Die Affäre um den ehemaligen Fidesz-Europaabgeordneten József Szájer könnte eine breite Anti-LGBTQ-Kampagne allerdings verhindern. Szájer war im vergangenen November in Brüssel auf einer Sexparty mit überwiegend homosexuellen Männern von der Polizei aufgegriffen worden. Die Party verstieß gegen die Corona-Kontaktbeschränkungen in Belgien. Zudem wurden bei Szájer Drogen gefunden. Szájer war vor Bekanntwerden des Skandals von seinem politischen Amt im EU-Parlament zurückgetreten. Anschließend trat er auch aus der Fidesz-Partei aus. Premierminister Viktor Orbán begrüßte den Austritt seines langjährigen Vertrauten. Szájers Handlungen seien "mit den Werten unserer politischen Familie unvereinbar", erklärte er.