Ungarn: Sexaffäre erschüttert das System Orbán
2. Dezember 2020Mit wem und wie vielen es ein Politiker in seinem Schlafzimmer einvernehmlich treibt oder auf welche legalen Sex-Partys er geht, ist im toleranten und freiheitlichen Europa Privatsache. Es sei denn, er heuchelt in der Öffentlichkeit das Gegenteil von dem, was er praktiziert. Dann wird aus seinem Privatleben ein Politikum.
Zu einem solchen Politikum wurde nun das Privatleben des ungarischen rechtskonservativen Europaabgeordneten József Szájer, eines engen Vertrauten von Ungarns Premier Viktor Orbán. In der Öffentlichkeit des EU-Mitgliedslandes ist Szájer für seine stramm traditionalistischen Ansichten bekannt. Er schrieb nach 2010 Ungarns neue christlich-konservative Verfassung, die auch einen homophoben Familienpassus enthält.
Am vergangenen Freitagabend (27.11.2020) besuchte Szájer in Brüssel eine wegen der Corona-Beschränkungen illegale Sexparty. Belgische Medien nennen es eine "Gangbang"-Party überwiegend homosexueller Männer. Etwa zwei Dutzend Personen sollen auf dem Event in einer Wohnung über einer Schwulenbar zugegen gewesen sein. Weil Nachbarn sich wegen des Lärms beschwerten, stürmte die Polizei die Wohnung, notierte die Personalien der überwiegend unbekleideten Männer und löste die Party auf.
Szájer floh beim Eintreffen der Polizei halbnackt durch ein Fenster und kletterte an einer Regenrinne herab, wobei er sich an der Hand verletzte. Kurz darauf nahm die Polizei ihn fest, blutend, ohne Ausweisdokumente, in seinem Rucksack fand sie Ecstasy-Pillen. Szájer wurde in seine Wohnung eskortiert, wo er seinen Diplomatenpass vorzeigte.
Am Sonntag teilte der Europaabgeordnete dann schriftlich mit, dass er sein Mandat zum Jahresende niederlegen werde. Er begründete das unter anderem mit einer "immer größeren seelische Belastung". Am Dienstag schließlich wurden die konkreten Gründe seiner Entscheidung, die er zuvor verschwiegen hatte, bekannt.
Mitbegründer der Partei Orbáns
Die Szájer-Affäre hat in Ungarn eines der schwersten politischen Beben des vergangenen Jahrzehnts ausgelöst, das Orbán geprägt hat. Vor allem aber zeigt sie die Heuchelei und Doppelmoral im System des Premiers am Beispiel eines seiner wichtigsten Politiker: Szájer war 1988 einer der 37 Mitbegründer von Orbáns Partei "Bund Junger Demokraten" Fidesz und ist einer der wenigen politisch noch Aktiven aus dieser Zeit. Diese Handvoll Personen, zu denen auch der Parlamentspräsident László Kövér und der berüchtigte rassistische Publizist Zsolt Bayer zählen, bilden mit Orbán eine verschworene Gemeinschaft.
Szájer war darüber hinaus ein wichtiger Netzwerker in Brüssel und eine Schnittstelle in Orbáns Europapolitik. Zudem ist er der Ehemann der bis vor kurzem wichtigsten Justizbeamtin Ungarns, Tünde Handó. Sie leitete bis 2019 die Landesgerichtsbehörde OBH und hatte wesentlichen Anteil an einer Justizreform, mit der die Gerichte unter Regierungseinfluss gerieten.
Ultrakonservative Ansichten
Szájer ist kein Scharfmacher und Verschwörungstheoretiker wie etwa Parlamentspräsident Kövér. Allerdings ließ er nie einen Zweifel an seinen ultrakonservativen Ansichten. In Brüssel vertrat er Orbáns nationalistische, ethnizistische und christlich-fundamentalistische Ideologie oft vehement.
Die ungarische Verfassung von 2012, so besagt es die Legende, soll er auf seinen Reisen zwischen Budapest, Brüssel und Straßburg auf einem Tablet-Computer geschrieben haben. Sie enthält in ihrem ersten Teil über die Grundlagen des ungarischen Staates auch einen Passus, der die Ehe ausschließlich als Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau definiert, die Ehe wiederum als Grundlage der Familie und diese als Voraussetzung für den Erhalt der Nation.
Rote Linie für Homosexuelle
Homophobie war in Ungarn seit 2010 fester, aber anders als in Polen kein herausragender Bestandteil der Regierungspolitik. In den vergangenen Jahren machte Orbán gelegentlich primitiv-abfällige Bemerkungen über Homosexualität. Auf das Niveau notorisch aggressiver Schwulenhasser wie im Falle des Publizisten Bayer oder des Parlamentspräsidenten Kövér begab er sich nicht.
Allerdings schien es in den vergangenen Monaten, als ob Orbán sich an Polen ein Beispiel nehmen und Homophobie mehr ins Zentrum seiner Rhetorik rücken wolle. Im Oktober verglich er Homosexuelle erstmals mit Pädophilen. In einem Interview sagte er, die Ungarn seien gegenüber Homosexuellen tolerant und geduldig, es gebe aber eine rote Linie: "Sie sollen unsere Kinder in Ruhe lassen."
Zunehmend homophobe Medien
Kürzlich initierte Orbáns Regierung eine Ergänzung des Familienartikels in der Verfassung. Dort soll nun stehen: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann." Regierungsnahe Medien verbreiten zunehmend homophobe Inhalte. Bereits im Mai verabschiedete das Parlament ein Gesetz, dass es verbietet, das Geburtsgeschlecht im Melderegister zu ändern.
Nicht nur wegen dieser homophoben Offensive von Orbán und seiner Regierung kommt die Affäre Szájer zur Unzeit. Der Premier führt nach dem Veto gegen den EU-Haushalt durch Ungarn und Polen auch eine neue antieuropäische Kampagne, in der er vor einheimischem Publikum die Moralkeule schwingt.
Auswirkungen der Affäre
Wenn der Rechtsstaatsmechanismus eingeführt werde, so Orbán, werde die EU zu einer "neuen Sowjetunion". Orbán beschuldigt Europa auch, eine Diktatur der politischen Korrektheit errichten zu wollen, in der christliche, traditionelle und familiäre Werte nichts mehr zählen und das linksliberale europäische Establishment die Menschen gott- und identitätslos machen wolle.
Paradoxerweise könnte die Affäre Szájer Orbáns Homophobie-Offensive nun kurz- oder mittelfristig stoppen oder abschwächen. Und auch sonst dürfte Ungarns Premier die Auswirkungen der Affäre peinlich genau unter die Lupe nehmen. Denn unter anderem wegen einer Sex-Affäre mit Prostituierten eines Lokalpolitikers in Nordwest-Ungarn hatte Fidesz die Lokalwahlen vor einem Jahr krachend verloren.