Gefangen in Chinas Umerziehungslager
3. August 2020Wer Sayragul Sauytbay trifft, kann kaum glauben, dass diese energische Frau mit den wachen Augen durch die Hölle gegangen ist. Bis heute werde sie vom "langen Arm Chinas" schikaniert, sagt sie. Obwohl der ehemaligen Staatsbeamtin und Direktorin mehrerer Vorschulen mittlerweile Asyl in Schweden gewährt wurde, erhält sie weiterhin Morddrohungen von chinesischen Anrufern. Sie lässt sich nicht einschüchtern: "Ich fühle mich verpflichtet, der Welt meine Geschichte zu erzählen", betonte Sauytbay gegenüber der DW. 2016 geriet sie in die Mühlen des chinesischen Unterdrückungsapparats.
"Ihre außergewöhnliche Stärke darf nicht darüber hinwegtäuschen, welche seelischen Qualen sie wirklich peinigen", sagt Alexandra Cavelius, die gemeinsam mit Sauytbay "Die Kronzeugin" als ersten Augenzeugenbericht über die chinesischen Straflager geschrieben hat. "Während der Interviews musste sie sich manchmal mit einem Tuch den Kopf zubinden, damit die schrecklichen Bilder nicht ihren Kopf zum Platzen bringen", erzählt sie der DW.
Vier Jahre ist es her, dass die 1977 in dem autonomen kasachischen Bezirk Ili geborene Sauytbay in einem chinesischen Umerziehungslager in der Provinz Xinjiang inhaftiert war. In offiziellen Stellungnahmen der Kommunistischen Partei Chinas werden diese Lager als Bildungseinrichtungen dargestellt, in denen man potenziellen muslimischen Terroristen die chinesische Sprache und Kultur beibringt.
Bis zu einer Million Muslime festgehalten
Sauytbay hingegen berichtet von Massenvergewaltigungen, von Scheinprozessen, von mutmaßlichen Medikamentenexperimenten - und von einem "schwarzen Zimmer". So nennt sie einen Raum mit einem elektrischen Stuhl, auf dem Insassen gefoltert würden. Auch sie sei dort bis zur Besinnungslosigkeit gequält worden, sagt sie. Offiziell heißt es "Autonome Uigurische Region Xinjiang", Sauytbay spricht vom "größten Freiluftgefängnis der Welt". Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass es etwa 1200 derartige Lager mit rund einer Million Internierten gibt.
Von einem "kulturellen Genozid" spricht der Sinologe Adrian Zenz. "Dort spielt sich etwas noch nie Dagewesenes ab. Die systematische Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit ist vom Ausmaß her vermutlich die größte seit dem Holocaust", sagte Zenz 2019 gegenüber tagesschau.de.
Großprojekt Seidenstraße
Die Kasachen sind seit dem Altertum nicht nur in Kasachstan, sondern auch in der Mongolei und im Nordwesten Chinas beheimatet. Sayragul Sauytbay wächst als eines von neun Kindern auf. Zunächst lebt die Familie als Hirtennomaden inmitten einer rauen Natur und ihren Tieren.
In den 1980er-Jahren wird die Familie gemeinsam mit weiteren Familien an einem Flussufer sesshaft. Eines Tages erscheinen Han-Chinesen in dem Dorf und eröffnen Gemischtwarenläden. Bevor es die Einheimischen realisieren, haben die Neuankömmlinge das Sagen. Staudämme und riesige Fabriken werden gebaut, der Fluss, das einstige Lebenselixier der Kasachen, verwandelt sich in "ein stinkendes Rinnsal".
China ist auf dem Vormarsch, das wirtschaftliche Großprojekt Seidenstraße führt durch den Nordwesten der Großmacht. "Xinjiang" bedeutet "Neue Grenze" und ist geopolitisch sehr wichtig - für die ethnischen Volksgruppen dort bleibt es Ostturkestan. Rund ein Fünftel der Kohle-, Gas- und Erdölvorkommen Chinas befinden sich hier.
Brutaler "Kulturaustausch"
Wie aussichtslos ihre Lage ist, erkennt Sauytbay spätestens 2016: Ihrem Sohn wird im Kindergarten der Mund mit Klebeband zugeklebt. Er hat Kasachisch gesprochen. Daraufhin reisen ihr Ehemann und die beiden Kinder nach Kasachstan aus, sie will kurz darauf nachkommen.
Doch sie wird ihre Kinder lange Zeit nicht sehen. Zunächst ziehen die Behörden die Reisepässe der muslimischen Volksgruppen ein. Dann startet ein "Freundschaftsdienst": Acht Tage im Monat sollen Kasachen, Uiguren und weitere Ethnien bei Han-Chinesen wohnen, um deren Kultur zu erlernen.
Was nach einem harmlosen Austauschprogramm aussieht, beschreibt Sauytbay in ihrem Augenzeugenbericht "Die Kronzeugin" wie eine staatlich verordnete Tortur. Die meisten werden als Haushaltssklaven ausgebeutet. Die Muslime werden gezwungen, Schweinefleisch zu essen. Die Frauen teilen mit dem Gastgeber das Bett. Als ob es nicht entwürdigend genug wäre, sind die Han-Chinesen angehalten, jede Arbeitsleistung zu fotografieren und an die Behörden zu schicken. Oder zur Belustigung in den sozialen Medien zu posten.
Überwachung, Folter, Vergewaltigungen
Als ab 2016 die ersten Umerziehungslager eröffnen, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht jemand verschwindet - die Gründe sind nicht nachvollziehbar, es scheint Willkür zu herrschen. Sayragul Sauytbay erzählt, dass sie, wie so viele, eine kleine Tüte mit dem Allernötigsten neben der Tür hängen hatte. Stets griffbereit.
Schließlich wird auch sie abgeholt. Als Lehrerin wird sie gezwungen, die Insassen in chinesischer Sprache und Propagandaliedern zu unterrichten. Ihre Einzelzelle besteht nur aus nacktem Beton und fünf Kameras an der Decke. Andere Internierte hingegen sind mit bis zu 20 Menschen auf 16 Quadratmetern eingepfercht. Die Insassen tragen Handschellen und Uniformen, ihre Köpfe sind kahlrasiert.
Als studierte Ärztin wird Sayragul Sauytbay auch auf der Krankenstation eingesetzt und erlebt, wie den Insassen Medikamente ohne Indikation verabreicht werden. Sie vermutet Experimente dahinter, bei Frauen auch die Herleitung von Unfruchtbarkeit. Bei einer Versammlung wird sie Zeugin, wie Wachen eine junge Frau vor den Augen von 200 Insassen vergewaltigen. Wer eine Gefühlsregung zeigt, den erwarten weitere Foltermaßnahmen.
Schweres Trauma
Genauso willkürlich, wie Sayragul Sauytbay im Umerziehungslager landet, so wird sie nach fünf Monaten wieder freigelassen. Todesmutig flieht sie nach Kasachstan - und trifft nach zweieinhalb Jahren ihren Mann und ihre zwei Kinder wieder. Doch da sie die Grenze illegal überquert hat, wird ihr hier kein Asyl gewährt.
Stattdessen erklärt sich Schweden bereit, die Familie aufzunehmen. Wie lebt es sich in der neu gewonnenen Freiheit? Sayragul Sauytbay bricht in Tränen aus. Die 43-Jährige ist so dankbar - und gleichzeitig so traurig, dass sie ihre Angehörigen noch nicht einmal kontaktieren darf. In Schweden gehen ihre Kinder zur Schule, sie und ihr Mann lernen Schwedisch.
Das Trauma sitzt tief. In ihrem Buch schreibt sie: "Seitdem ich im Straflager war, komme ich manchmal nicht vom Bett hoch. Das liegt daran, dass ich dort so lange auf kaltem Betonboden schlafen musste. Meine Glieder und Gelenke schmerzen vom Rheuma. Vorher war ich vollkommen gesund, heute bin ich mit 43 Jahren eine kranke Frau."