Ukrainische Schüler: Kritik an Willkommensklassen
13. Dezember 2022Anna Bobrakova freut sich. "Mama, Du kannst stolz auf mich sein, ich habe fast nur Einsen", habe ihr Sohn kürzlich gesagt, erzählt die Ukrainerin. Er ist 15 Jahre alt und hat einen 12-jährigen Bruder. Beide besuchen ein Gymnasium in Berlin und sind dort sogenannten Willkommensklassen zugeordnet, in denen Kinder wegen fehlender Deutschkenntnisse zunächst getrennt von ihren übrigen Mitschülern unterrichtet werden.
Laut Bobrakova, die unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges mit ihren Söhnen floh, klappt das gut. "Ich musste ihn von Anfang an kein einziges Mal ermahnen, er ist jeden Tag gerne zur Schule gegangen", sagt die Mutter im Gespräch mit der DW über ihren jüngeren Sohn. Sein Bruder sei manchmal nicht so eifrig, auch wenn er sehr gute Noten habe. "Ich sage meinen Kindern oft, dass wir in die Ukraine zurückgehen müssen, wenn sie sich in der deutschen Schule nicht anstrengen. Das hilft."
Immer mehr Ukrainer wollen bleiben
Nach einem dreiviertel Jahr in Berlin wollen die beiden Jungen nicht in die Ukraine zurück. Damit sind sie nicht allein. "Wir wissen, dass 50 Prozent der Kriegsflüchtlinge inzwischen bleiben wollen", sagt Natalia Roesler vom Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt). "Auch über die Dauer von zwei Jahren hinaus."
Das ist der Zeitraum, in dem die Kriegsflüchtlinge nach derzeitigem Stand "vorübergehenden Schutz" in Deutschland genießen. Ihr Aufenthaltsstatus gilt zunächst für ein Jahr, kann sich aber zweimal automatisch um sechs Monate verlängern.
Jedes Kind muss zur Schule gehen
Bis November haben sich laut Ausländerzentralregister (AZR) rund 1,02 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine bei den deutschen Behörden angemeldet. Rund 35 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die meisten davon im Grundschulalter. Sie sind schulpflichtig, müssen also unterrichtet werden.
Natalia Roesler ist froh über die Schulpflicht. In der ersten Zeit hätten die meisten Geflüchteten gehofft, schnell wieder nach Hause fahren zu könnten. "Sie waren aufgeregt und saßen sozusagen auf ihren Koffern und da ist die Bereitschaft, die Kinder freiwillig in eine deutsche Schule zu schicken, nicht sehr ausgeprägt", schildert Roesler ihre Erfahrungen. Zumal es für die Kinder möglich war, ihren Schulbesuch in der Ukraine online fortzusetzen.
Was und wie unterrichtet wird, entscheiden die Länder
Nicht alle, aber rund 201.000 ukrainische Kinder und Jugendliche haben inzwischen einen Platz an einer deutschen Schule. Von einer "großartigen Integrationsleistung" spricht Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien. Vielerorts sei die Aufnahme "relativ geräuschlos" gelungen, sagt die CDU-Politikerin, die derzeit die Kultusministerkonferenz (KMK) leitet. In dem Gremium stimmen sich die Bildungsminister der 16 Bundesländer über möglichst einheitliche Regeln an den deutschen Schulen ab. Bildung ist in Deutschland Ländersache.
Bundesweit gültige Vorgaben, wie geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland unterrichtet werden, gibt es nicht. Es hängt vom Wohnort ab, ob sie direkt in normale Schulklassen integriert werden oder separate Willkommens- oder Vorbereitungsklassen besuchen. Mancherorts können sie in den regulären Unterricht wechseln, wenn sie ausreichend Deutsch gelernt haben. Es gibt aber auch Bundesländer, wo die Kinder grundsätzlich bis zu einem Jahr lang separat in Vorbereitungsklassen unterrichtet werden.
Für die Ukrainer sei das schwer zu verstehen, sagt Natalia Roesler. "Das ist für manche Eltern ein Schock, dass es in Deutschland 16 verschiedene Systeme gibt."
Willkommensklassen in der Kritik
In der Ukraine gehört Deutsch neben Englisch zu den zentralen Fremdsprachen im Schulunterricht. Trotzdem ist die Sprachbarriere oft erheblich. Auf den ersten Blick erscheint es daher sinnvoll, Kindern und Jugendlichen zunächst in Willkommensklassen Deutsch beizubringen.
Bildungswissenschaftler widersprechen dieser Annahme. Der Sprachunterricht sei zwar wichtig, doch die Separierung von Migranten innerhalb der Schulen habe in der Praxis mehr negative als positive Auswirkungen, sagt Juliane Karakayali, Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Die Willkommensklassen seien ein Parallelsystem, das nicht in das reguläre Schulsystem eingebunden sei und Schüler stigmatisiere. In Ermangelung von festen Lehrplänen hänge es in der Regel von den Lehrern ab, was die Kinder lernen würden.
Aus Vorbereitungsklassen schaffen es wenige zum Gymnasium
Karakayali hat Erfahrungen mit Willkommensklassen seit 2015/2016 ausgewertet. Deutsche Schulen seien durch einen eklatanten Lehrer- und Raummangel ohnehin am Limit. "Diese Schülerinnen und Schüler werden irgendwo hingesetzt und niemand kümmert sich perspektivisch um sie - Hauptsache, der normale Betrieb an der Schule ist entlastet."
Zu der Kritik passt eine Studie des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach der Bildungserfolg von geflüchteten Kindern im Grundschulalter sich deutlich verschlechtert, wenn sie eine Vorbereitungsklasse anstelle einer Regelklasse besuchen. Kinder aus Vorbereitungsklassen schafften mit geringerer Wahrscheinlichkeit den Sprung auf ein Gymnasium.
Eine Lehrerin erzählt
Sarah, eine Grundschullehrerin aus Baden-Württemberg, die ihren vollen Namen nicht veröffentlicht sehen will, unterstützt die Kritik. "Wir haben keine Vorgaben, was und wie wir unterrichten sollen", bestätigt die 27-Jährige im Gespräch mit der DW.
Seit Beginn des Schuljahres im September unterrichtete sie zunächst ukrainische Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren in einer Vorbereitungsklasse. "Wir hatten an unserer Schule noch eine zweite Vorbereitungsklasse mit Kindern, die arabisch oder türkisch sprechen. Weil wir zu wenige Lehrer haben, mussten wir die Klassen leider zusammenlegen."
Plädoyer für schnelle Integration
Der Unterricht habe nur wenig mit normalem Schulunterricht zu tun. "Ich verständige mich mit Händen und Füßen und Google-Übersetzer", berichtet Sarah. "Es gibt elementaren Sprachunterricht in Deutsch und Mathematik - aber da sind die Kinder schon vom Alter her viel zu weit auseinander." Als Konsequenz erstellt die Lehrerin für jedes Kind eigene Aufgabenpakete, die zu lösen und abzugeben sind.
Sarah ist fest davon überzeugt, dass die Kinder viel schneller und viel besser lernen würden, wenn sie nach einer kurzen Vorbereitungszeit von zwei bis drei Wochen in Regelklassen integriert würden. "Die Kinder bleiben sonst unter sich und unterhalten sich natürlich nur in ihrer eigenen Sprache", sagt sie. Gut fände sie, ukrainische Lehrer einzustellen und sie zusammen mit deutschen Lehrern unterrichten zu lassen.
Keine Chance ohne Masterstudium und Referendariat
Eine Forderung, die auch Bildungswissenschaftler erheben. Doch die Kultusministerkonferenz tut sich schwer damit, obwohl sie den Bedarf an zusätzlichen Lehrern auf 30.000 schätzt. Eine bereits im März von der KMK eingerichtete Task-Force arbeitet an Ideen, wie ukrainische Lehrkräfte mit Intensiv-Sprachkursen und einer Anpassungs-Qualifikation für den Unterricht fit gemacht werden können.
Ein solches Programm würde allerdings nicht ausreichen, um sie mit deutschen Lehrern gleichzustellen. Während Lehrer in der Ukraine nur ein Bachelor-Studium absolvieren müssen, kommt in Deutschland ein Masterstudium und ein Referendariat dazu, das ist der praktische Teil der Ausbildung, der zusätzlich 18 Monate dauert. "Es bleibt dabei, dass für den Einstieg ins deutsche Schulsystem eine solche Mindestqualifikation erforderlich ist", betont die KMK-Vorsitzende Prien.
Schlechtere Stellung, schlechtere Bezahlung
Die 3000 ukrainischen Lehrerinnen und Lehrer, die aktuell an deutschen Schulen beschäftigt sind, würden überwiegend als "irgendwie geartetes pädagogisches Personal" eingesetzt, moniert Karakayali. Mit entsprechend schlechterer Bezahlung. Grundschullehrerin Sarah kann da nur den Kopf schütteln. "Es geht doch um die Kinder!", sagt sie. "Wir haben einen so eklatanten Lehrermangel, da müsste es doch flexiblere Lösungen geben."
Zumal es laut Bildungsexpertin Juliane Karakayali wichtig wäre, dass ukrainische Kinder und Jugendliche zusätzlich auch in ihrer eigenen Sprache und nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet würden. Sonst drohe die Gefahr, dass sie den Anschluss an ihr eigenes Schulsystem verlieren würden. Zwar ist es nach wie vor möglich, online an ukrainischem Schulunterricht teilzunehmen. Doch die Bereitschaft, sich über den deutschen Unterricht hinaus am Nachmittag auch damit noch zu beschäftigen, nehme ab. Vor allem bei den jungen Menschen, die für sich beschlossen hätten, dass sie in Deutschland bleiben wollen.