Flüchtlinge in Deutschland - Fragen und Antworten
10. Oktober 2022Wie viele Menschen flüchten derzeit nach Deutschland - und woher kommen sie?
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine
Zwischen Ende Februar und Ende September 2022 wurden dem Bundesinnenministerium zufolge rund 998.000 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert. Etwa zwei Drittel davon sind weiblich, etwa ein Drittel männlich. Gut 350.000 sind Kinder und Jugendliche. 80.000 Ukrainer haben sich in dieser Zeit in Deutschland wieder abgemeldet.
Tatsächlich könnten sich aber mehr Menschen aus dem Kriegsgebiet in Deutschland aufhalten. Ukrainer können ohne Visum in die Europäische Union einreisen und sich 90 Tage in EU-Mitgliedstaaten des Schengen-Raums frei bewegen. Innerhalb dieser Zeit müssen sie sich eine Aufenthaltserlaubnis für einen weiteren Aufenthalt einholen. Einen Schutzstatus als Kriegsflüchtlinge haben laut UNHCR in Deutschland bislang mehr als 700.000 Ukrainer erhalten.
Asylbewerber
Es kommen wieder mehr Menschen über das Mittelmeer und die westlichen Balkan-Staaten. Von Januar bis August 2022 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 115.402 Erstanträge auf Asyl gestellt. Im Vergleichszeitraum 2021 waren es 85.230 Erstanträge, das ist eine Zunahme um 35,4 Prozent.
Syrer waren mit 34.005 Erstanträgen auf Asyl am stärksten vertreten, das sind knapp sechs Prozent weniger als 2021. Afghanen stellten 19.730 Erstanträge, das sind knapp 58 Prozent mehr als im Vorjahr. Iraker stellten 10.288 Erstanträge, das ist ein Plus von rund 45 Prozent. 16.937 der Erstantragstellenden waren in Deutschland geborene Kinder im Alter von unter einem Jahr.
Das Bundesinnenministerium nennt als Grund unter anderem, dass sich in wichtigen Aufnahme- und Transitstaaten wie der Türkei, Tunesien oder Libyen die wirtschaftliche und innenpolitische Lage verschärft habe. EU-Staaten wie Griechenland und Italien unterstützen Migranten finanziell kaum und lassen sie nach Deutschland weiterreisen, obwohl sie eigentlich zuständig wären.
Wie werden Geflüchtete auf die Bundesländer verteilt?
Es greift der sogenannte "Königsteiner Schlüssel". Auf der Basis von Steuereinnahmen und Einwohnerzahl wird jedes Jahr neu errechnet, wie viele Menschen ein Bundesland aufnehmen kann und muss. So soll sichergestellt werden, dass die Verteilung fair abläuft.
Fühlt sich ein Land überfordert, kann es sich aus der Aufnahme abmelden. In diesem Jahr haben das bereits zwölf der 16 Bundesländer gemacht, weil sie nachweislich mehr Menschen aufgenommen haben, als sie nach dem Königsteiner Schlüssel müssten. Auch Kommunen, also Städte und Gemeinden haben einen Stopp verhängt. Mit der Folge, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge zwar bei Verwandten oder Freunden unterkommen können, aber keine Sozialhilfe von der Kommune bekommen.
Gibt es ausreichend Unterkünfte?
Im Juni waren in den meisten Städten und Gemeinden noch ausreichend Plätze in Wohnungen und Gemeinschaftsunterkünften vorhanden. Das hat sich inzwischen geändert. In immer mehr Kommunen ist kein Platz mehr verfügbar. Wie schon 2015 und 2016 müssen wieder Turnhallen mit Betten und Stellwänden als Notunterkünfte eingerichtet werden. Zelte, die im Sommer als Übergangslösungen gedient hatten, können nicht abgebaut werden.
Der Wohnungsmarkt in Deutschland ist angespannt. Freie Wohnungen gibt es höchstens in abgelegenen ländlichen Gebieten. Der Migrationsforscher Gerald Knaus warnte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe: "Wir stehen vor einem historischen Fluchtwinter, sollte die Lage in der Ukraine sich weiter zuspitzen und im Winter die Versorgung mit Wärme und Strom nicht funktionieren, weil der russische Angriffskrieg etwa Kraftwerke zerstört oder Massenvernichtungswaffen einsetzt."
Wie sieht es mit der Integration aus?
Für Geflüchtete gibt es Integrations- und Sprachkurse. Stand September haben insgesamt 100.000 Menschen aus der Ukraine einen Integrationskurs begonnen. Dieser besteht aus 600 Unterrichtseinheiten Sprachkurs sowie weiteren 100 Unterrichtseinheiten Orientierungskurs, in dem Kenntnisse zu Staat, Gesellschaft und Geschichte Deutschlands vermittelt werden.
Neben den 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainern nehmen derzeit rund 90.000 weitere Personen an einem Integrationskurs teil. Damit stellt das Herkunftsland Ukraine die größte Gruppe unter den Teilnehmenden. Umgesetzt werden die Kurse deutschlandweit von insgesamt 1500 zugelassenen Sprachschulen und Bildungseinrichtungen.
Wie werden die Kinder versorgt?
Mehr als 193.000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges an den Schulen in Deutschland aufgenommen worden. Während die Zahl in den ersten Monaten langsam stieg, ist sie nach den Sommerferien nach oben geschnellt. Die Schulen fühlen sich damit überfordert.
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) spricht von "kaum noch zu lösenden Herausforderungen" an den Schulen. "Raumknappheit, Lehrkräftemangel und fehlende Unterstützung durch andere Professionen, beispielsweise bei der Bearbeitung von Traumata, führen dazu, dass eine erfolgreiche Integration trotz höchstem Engagement der Lehrkräfte kaum leistbar ist", sagte der Vorsitzende Udo Beckmann der Deutschen Presse-Agentur.
Welche Hilfe fordern Städte und Gemeinden?
Die Kommunen fordern mehr Geld für die Versorgung der Geflüchteten, aber auch einen Ausbau der Erstaufnahmekapazitäten. Dafür müssten auch Liegenschaften des Bundes in Frage kommen. Ukrainische Kriegsflüchtlinge können seit Juni Grundsicherung in Deutschland beziehen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Im August nahmen das rund 546.000 Menschen in Anspruch, davon waren gut 191.000 nicht erwerbsfähig, also zumeist Kinder.
Im April hatte der Bund zwei Milliarden Euro zusätzlich an Länder und Kommunen gezahlt, damit die ihren Aufgaben in der Flüchtlingshilfe nachkommen können. Im November sollte die weitere Finanzierung geklärt werden. Doch das Geld sei lange aufgebraucht, heißt es vom Deutschen Städtetag und dem Städte- und Gemeindebund, den Interessensverbänden der Kommunen.
Sie haben einen Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen gefordert. Dieser soll am Dienstag (11.10.) stattfinden, allerdings hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dazu nur die Städte und Gemeinden eingeladen und nicht die Bundesländer.
Droht eine Krise, vergleichbar mit 2015/2016?
Davor warnen Politiker der Oppositionsparteien. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagt: "Würde man Asylbewerber und Ukraine-Flüchtlinge zusammenzählen, dann hätten wir bereits jetzt den Wert von 2016 deutlich überschritten." Seit dem Sommer 2015 waren innerhalb weniger Monate 1,2 Millionen Menschen, vorwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in Deutschland angekommen.
Auch kommunale Vertreter ziehen Parallelen. Dabei steht aber im Fokus, dass angesichts des angespannten Wohnungsmarktes die Unterbringungskapazitäten erschöpft sind. Ämter und Behörden, die 2015/2016 vielfach überfordert waren, kommen mit den Verwaltungsaufgaben inzwischen weitaus besser zurecht.
Was will die Bundesregierung tun?
Im Innenministerium ist man sich der Probleme durchaus bewusst. Ministerin Nancy Faeser will mit den Kommunen konkrete Möglichkeiten ausloten, um die Lage zu verbessern. Abstimmungsbedarf wird in Berlin aber nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene gesehen. Die Schutzsuchenden aus der Ukraine seien sehr ungleich über Europa verteilt. Polen und Tschechien haben die meisten Menschen aufgenommen, Deutschland fast eine Million Frankreich beispielsweise nur rund 100.000.
Mit Blick auf die steigenden Asylbewerberzahlen sollen die illegale Einreisen über die West-Balkanstaaten eingedämmt werden. Die Grenzkontrollen zu Österreich wurden verlängert, an der tschechischen Grenze kontrolliert die Bundespolizei verstärkt im Rahmen der Schleierfahndung. Es räche sich jetzt, dass das angestrebte Gemeinsame Europäische Asylsystem in den vergangenen Jahren "keinen Schritt vorangekommen" sei, sagte der Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Stephan Thomae, in einem Zeitungsinterview. "Wir brauchen jetzt zügig einen europäischen Migrationsgipfel, um klare Regeln zu schaffen, wie Europa mit dieser und zukünftigen Fluchtbewegungen umgeht."