Ukraine: Wie NGOs russische Kriegsverbrechen dokumentieren
27. März 2023Über 75.000 Kriegsverbrechen , die von der russischen Armee seit Beginn der großflächigen Invasion im Februar vergangenen Jahres begangen wurden, wurden bislang von ukrainischen Behörden registriert. Ermittler und Staatsanwälte sowie internationale Untersuchungsorgane arbeiten mit Hochdruck daran, Beweise sicherzustellen und Zeugen zu befragen. Doch allein das gewaltige Ausmaß der Verbrechen zeigt, dass es wohl noch Jahrzehnte dauern könnte, den Großteil der Schuldigen auch tatsächlich vor Gericht zu bringen.
Unterstützt werden die Ermittler auch von mehr als 30 ukrainischen Nichtregierungsorganisationen, die sich schon vor einem Jahr zu einem Verbund namens "Ukraine 5 AM Coalition" zusammengeschlossen haben. Ihr Ziel ist es, den Opfern der russischen Aggression eine Stimme zu geben und die direkten Kriegsverbrecher ebenso zur Rechenschaft zu ziehen wie die oberste Führung der Russischen Föderation. Einige Mitgliedsorganisationen des Verbandes befassen sich damit schon seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Nun teilen sie ihre Erfahrungen mit ihren Kollegen aus der Zivilgesellschaft, aber auch mit Vertretern der Ermittlungsbehörden.
"Kein Land hat sich jemals darauf vorbereiten können, alle Kriegsverbrechen aufzuklären. Auch in der Ukraine gab es bis 2014 keine solchen Erfahrungen, also hat hier die Zivilgesellschaft eingegriffen", sagt Roman Awramenko, Leiter der Organisation Truth Hounds, die Kriegsverbrechen dokumentiert.
Eigene Kontakte als Quellen
Ihm zufolge läuft die Partnerschaft zwischen Beamten und Menschenrechtlern gut. Die NGOs sammeln Zeugenaussagen von Verbrechensopfern über eigene Hotlines und direkt vor Ort, sie tauschen über eine speziell eingerichtete elektronische Datenbank Informationen mit Regierungsbehörden aus und führen an manchen Orten sogar eigene Untersuchungen durch. Manchmal schulen sie sogar ukrainische Ermittler darin, zu erkennen, was überhaupt als Kriegsverbrechen gilt.
Die Vorstandsvorsitzende des Zentrums für Menschenrechte ZMINA, Tetjana Petschontschyk, nennt etwa Beispiele von Zwangsdeportationen, die weder von den Strafverfolgungsbeamten noch von den Opfern selbst auf den ersten Blick als Kriegsverbrechen erkannt werden. "ZMINA hat bei Feldmissionen 233 Fälle von Deportationen dokumentiert, etwa in Dörfern der Region Charkiw an der Grenze zu Russland. Und im Gespräch mit den Menschen stellten wir fest, dass kaum jemand der Betroffenen sich bei den Strafverfolgungsbehörden gemeldet hatte. Oft begreifen die Menschen gar nicht, dass ihnen ein Verbrechen zugestoßen ist, weil die Deportationen als Evakuierungen getarnt waren", sagt sie.
Noch komplizierter sei die Lage bei Journalisten und Aktivisten, die der Widerstandsbewegung in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine angehörten und dort inhaftiert seien, sagt Olha Skrypnyk, Leiterin der Organisation "Crimean Human Rights Group". Über das Verschwinden solcher Menschen erfahre man oft nur von deren Angehörigen. Oft gebe es gar keine offizielle Anklage gegen die Inhaftierten, dadurch besäßen sie auch kaum einen Rechtsschutz. Daher sind NGOs fast die einzigen, denen es gelingt, solche Gefangene über eigene Kontakte und Netzwerke in russischen Gefängnissen ausfindig zu machen.
"Wir wissen bereits von mindestens 110 Personen, die sich in einem neuen, speziell ausgestatteten Internierungslager in Simferopol (auf der russisch besetzten Krim, Anm. d. Red.) befinden, aber die Möglichkeiten, diese Personen ausfindig zu machen und ihre Situation zu überprüfen, sind stark eingeschränkt. Russland will viele nicht offiziell als Kriegsgefangene anerkennen, was deren Freilassung faktisch unmöglich macht", so die Menschenrechtlerin.
Von aggressiven Aufrufen bis zum Ökozid
Oksana Romanjuk, die Leiterin des Instituts für Masseninformation (IMI), das seit vielen Jahren Straftaten gegen Journalisten dokumentiert und seit Beginn der russischen Invasion mehr als 500 Verbrechen gegen Medienvertreter verzeichnet hat, ist der Meinung, dass man jahrelang den falschen Begriff "Desinformation" verwendet hat.
"Wenn wir über russische Propaganda sprechen, vergessen wir, dass es sich in Wirklichkeit um eine extreme Form von Hassreden handelt. In diesem Jahr sind diese extrem aggressiv geworden: da gibt es bereits direkte Aufrufe zu Völkermord, zur Bombardierung ziviler Objekte, zur Ermordung von Ukrainern, und all dies lässt sich sogar auf Putins Doktrinen zurückführen", erklärt sie.
Das IMI versucht, Fälle von aggressiver Propaganda als Straftat zu erfassen, stellt jedoch fest, dass ein entsprechender Tatbestand im internationalen Recht bislang fehlt. "Mir ist klar, dass dies Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, dass es sich um Aggressionsverbrechen handelt, aber diese Dimension eines solchen Verbrechens wird nirgendwo beschrieben. Daher stehen wir vor der Herausforderung, sicherzustellen, dass diese Propagandisten eine gerechte Strafe erhalten, auch auf internationaler Ebene", betont Romanjuk.
Vor einem ähnlichen Problem stehen ukrainische Ökologen, die versuchen, das für das Völkerrecht auch eher ungewöhnliche Verbrechen des Ökozids zu dokumentieren.
Was tun mit den Beweisen?
Die NGOs sind bestrebt, eine effektive Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden aufzubauen. Doch aufgrund der Besonderheiten des Strafprozessrechts können von ihnen gesammelte Materialien noch immer nicht einfach so in offizielle strafrechtliche Ermittlungen einbezogen werden. "Um beispielsweise ein Video von YouTube oder einen Artikel eines Journalisten zur Akte hinzuzufügen, sind eine Vielzahl von Verfahren nötig, und oft werden sie vor Gericht doch als unzulässige Beweise eingestuft", sagt Olga Reschetylowa, Mitbegründerin der ukrainischen "Medieninitiative für Menschenrechte".
Oft erhalten die Organisationen auch Fotos und Videos von Betroffenen über soziale Netzwerke. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass das Bildmaterial auch authentisch, die übermittelnde Person auch vertrauenswürdig ist? Um dieses Problem zu lösen, fördert die Anwaltsvereinigung der Ukraine die mobile App "eyeWitness to Atrocities", die von der International Bar Association (IBA) zur Aufzeichnung von Gräueltaten entwickelt wurde. Die Anwendung macht es unmöglich, Foto- oder Videobeweise zu fälschen, weil sie gleichzeitig die Koordinaten des Aufnahmeorts aufzeichnet und alle Daten auf die sicheren IBA-Server hochlädt, versichert Dmytro Hladkyj, Anwalt aus Saporischschja.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk