Ukraine: Menschenrechtler belegen Kriegsverbrechen
15. Oktober 2022Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat sich die ukrainische Koalition von Menschenrechtsorganisationen "Ukraine 5 AM Coalition" der Identifizierung, Dokumentation und Beweissicherung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verschrieben, die während des Krieges auf dem Territorium der Ukraine begangen werden. Das erklärte Ziel der verschiedenen Organisationen ist es, Opfer der russischen bewaffneten Aggression in der Ukraine zu schützen sowie die oberste Führung der Russischen Föderation und die direkten Täter von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen.
"Ungestraftes Böses kommt zurück"
Mit Beginn der russischen Invasion der Ukraine hätten verschiedene Nichtregierungsorganisationen begonnen, Informationen über Kriegsverbrechen auszutauschen, die in verschiedenen Teilen der Ukraine begangen wurden, sagt Tetjana Petschontschyk, Mitbegründerin der Koalition Ukraine 5 AM Coalition und Vorstandsvorsitzende des Menschenrechtszentrums ZMINA der DW. Später beschlossen die Menschenrechtler, sich in einem Verband zusammenzuschließen, dem nun 30 ukrainische Organisationen angehören.
Einige von ihnen dokumentieren schon seit 2014 Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und beobachten die Lage auf der besetzten Krim und im Donbass. Andere Organisationen verfügen noch nicht über entsprechende Erfahrungen und lernen innerhalb des Verbandes von ihren Kollegen.
Hinter der Ukraine 5 AM Coalition steht Tetjana Petschontschyk zufolge der Gedanke gegen das Böse vorzugehen: Denn sollte Böses ungestraft bleiben, dann käme es um ein Vielfaches schlimmer zurück. Der Name bezieht sich auf die Uhrzeit am Morgen des 24. Februar, als die Menschen in verschiedenen Städten der Ukraine durch Explosionen geweckt wurden. Aber fünf Uhr morgens ist auch die Zeit, zu der russische Sicherheitskräfte auf der besetzten Krim üblicherweise mit Durchsuchungen in die Häuser der Krimtataren eindringen. "Aber jetzt ist dieses Übel im Morgengrauen in das Leben eines jeden von uns eingedrungen", so die Menschenrechtlerin.
"Jeden Tag werden neue Gräueltaten begangen"
Das beispiellose Ausmaß der Verbrechen des russischen Krieges erschwert die Dokumentation. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine wurden seit Beginn des Krieges fast 40.000 Verbrechen und Kriegsverbrechen der Russischen Föderation und etwa 17.600 Verbrechen gegen die nationale Sicherheit der Ukraine registriert. Gerade erst hat de Ukraine nach Angaben ihres Generalstaatsanwaltes bislang 186 mutmaßliche russische Kriegsverbrecher identifiziert. Nur wenige von ihnen befänden sich aber bereits in Haft, teilte Generalstaatsanwalt Andriy Kostin in Den Haag mit. Das Ausmaß der Verbrechen sei immens, sagte er. "
Diese Zahlen sind nicht endgültig, denn der Krieg geht weiter. Jeden Tag werden neue Gräueltaten begangen", betont Tetjana Petschontschyk. Ihr zufolge berücksichtigen die offiziellen Daten die große Anzahl von Verbrechen nicht, die in Gebieten begangen werden, zu denen die ukrainischen Behörden derzeit keinen Zugang haben.
Ein Teil der Arbeit der Menschenrechtler besteht in der Koordination zwischen den verschiedenen Organisationen, die die Kriegsverbrechen dokumentieren. "Die Fakten müssen korrekt aufgezeichnet werden, damit die dokumentierten Daten und Zeugenaussagen vor nationalen und internationalen Gerichten verwendet werden können", sagt Petschontschyk. "Daher ist es wichtig, dass die Gruppen, die die Dokumentation durchführen, anerkannte Standards für die Sammlung und Überprüfung von Daten aus offenen Quellen verwenden, Missionen vor Ort durchführen und Zeugen und Opfer befragen", erläutert die Menschenrechtlerin.
Die gesammelten und dokumentierten Fakten über Kriegsverbrechen übermittelt Ukraine 5 AM Coalition auch an die UN-Kommission zur Untersuchung der Ereignisse in der Ukraine, an die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission und an den Moskauer Mechanismus der OSZE. Diese wiederum erstellen eigene Berichte und Bewertungen, die wichtig sind, um der Welt zu zeigen, was in der Ukraine passiert. Außerdem geht es darum einen Konsens bezüglich der Verurteilung der Russischen Föderation und eine Unterstützung der Ukraine zu erzielen. Darüber hinaus kooperiert die Koalition mit der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft und dem Internationalen Strafgerichtshof.
Russische Führung auf die Anklagebank bringen
Zur Arbeit der Koalition gehört auch die Dokumentation des gewaltsamen Verschwindens von Bürgern in den Gebieten, die seit dem 24. Februar 2022 von der russischen Armee besetzt wurden. Diejenigen, die freikommen konnten, sprechen von Folter und unmenschlicher Behandlung. Zu den meisten, die sich in russischer Gewalt befinden, besteht allerdings kein Kontakt.
Menschenrechtler sagen, dass ihnen die "Handschrift" dieser Verbrechen bereits bekannt sei. Als Russland die Krim besetzt habe, hätten auch dort Massenentführungen von Aktivisten und Journalisten begonnen, insbesondere von Krimtataren. Später, als Russland den Krieg im Donbass begonnen habe, sei dies auch dort passiert. Heute gehe die Zahl verschwundener Menschen in die Tausende, beklagt Petschontschyk.
Die Menschenrechtler sind sich bewusst, dass die Dokumentation und Untersuchung von Kriegsverbrechen in der Ukraine Jahre und sogar Jahrzehnte dauern kann. "Es ist wichtig, uns darauf einzustellen, unsere Kräfte zu bündeln und daran zu arbeiten, dass die direkten Täter der Verbrechen sowie der russische Präsident Putin und die oberste Führung der Russischen Föderation, die vor acht Jahren einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen haben, gerecht bestraft werden", sagt die Menschenrechtlerin.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk