Kinder des Krieges
25. Mai 2015Sie ist ganz alleine geflüchtet: Kristina, 18 Jahre alt, aus der ostukrainischen Rebellenhochburg Donezk: "Nachdem vergangenen Sommer der Krieg begonnen hatte, kamen die Schüsse irgendwann immer näher an unsere Berufsschule heran." Eines Tages hat sie ihre Sachen gepackt und ist in einen der orangenen Linienbusse gestiegen, die weiterhin durch die Checkpoints der Rebellen und der ukrainischen Truppen fahren. Ziel: Die erste größere Stadt auf von der Regierung kontrolliertem Gebiet - Krasnoarmejsk. Zuvor hatte sie im Internet eine andere Berufsschule gefunden, die sie annehmen wollte. Eine zuvor schon geflüchtete Freundin und ihre Familie haben sie dann im kirchlich betriebenen Kinderheim von Krasnoarmejsk untergebracht. Seither ist sie jeden Tag im Internet - und hält Kontakt zu ihren Freunden in Donezk: "Natürlich will ich am liebsten wieder nach Hause."
Brot und etwas Marmelade zum Frühstück
Doch sie ist auf sich alleine gestellt, ihre Eltern kümmern sich schon lange nicht mehr um sie. Spiegelbild des sozialen Niedergangs im Donbass, schon lange vor dem Krieg. Die Landschaft entlang der Frontlinie ist geprägt von stillgelegten Fabriken. Und egal ob in der Fronstadt Novoaidar auf ukrainisch gehaltener Seite nördlich der Rebellenhochburg Luhansk oder in fast jedem größeren Ort entlang der Frontlinie: Es zieht sich eine Kette von Kinderheimen die Ortschaften entlang, die meisten staatlich und unterversorgt. Zum Frühstück gibt's wie in Novoaidar kaum mehr als ein paar Scheiben Brot und etwas Marmelade. Nur mit privaten Spenden kann Alexej Kagan, der Leiter des kirchlich geführten Kinderheims von Krasnoarmejsk seinen Betrieb aufrecht erhalten, "wir arbeiten jetzt nur noch mit 30 Prozent der Mittel, die wir zuvor hatten". Doch immerhin: Sie arbeiten weiter - und das ist das Glück von Kristina, eines dieser zahllosen Kinder dieses Krieges in der Ost-Ukraine. Für eine staatliche Einrichtung war sie zu alt.
Der Junge aus der Tiefkühltruhe
Jetzt lebt sie in einem Kinderzimmer mit Plüschtieren und einigen jüngeren Mädchen zusammen. Es ist das Beste, was ihr im Moment passieren kann. Auch wenn die Geschichten ihrer Mitbewohner die ganze Wucht dieses Krieges schildern. Ihr bester Freund im Heim, wir nennen ihn Michael, hat unvorstellbares erlebt, sagt Heimleiter Alexej Kagan. "Seine Mutter hat ihn in eine Tiefkühltruhe gesteckt, damit er ruhig bleibt." Michael sagt kein Wort, nicht zu fremden Erwachsenen. Und selbst seine Gespräche mit der nur etwas älteren Kristina verlaufen eher nonverbal: Die beiden gehören zu den ältesten, ihre Gesten erinnern an Pupertierende. Nur eben ein paar Jahre zu spät. Die 18-jährige Kristina hat die ganze Zeit ein altes Smartphone in der Hand - ihr Zugang zur Welt auf der anderen Seite der Frontlinie, in die Heimatstadt Donezk. Michael freut sich über einen neuen Fußball. Die Tiefkühltruhe sei abgestellt gewesen, immerhin, sagt Heimleiter Alexej Kagan. Das habe er ihnen versichert, aber erst kurz bevor sie ihn fast in staatliche Obhut gegeben hatten. "Er war wochenlang nicht zu kontrollieren, nichts konnte man ihm sagen." Michael kannte keine Regeln. "Dann endlich hat eine unserer Betreuerinnen Zugang zu ihm gefunden." Der Teenager hat seine Geschichte erzählt.
Nach dem Abstieg der Krieg
Alkoholismus, Vernachlässigung, sozialer Absturz. Das war die Kohle- und Stahl-Region des Donbass schon vor dem Krieg. "Die Oligarchen haben die Betriebe nur ausgenommen und nie etwas investiert", bilanziert Pfarrer Ralf Haska von der deutschen evangelischen Kirchengemeinde Sankt Katharina in der Hauptstadt Kiew, der auch das kirchlich betriebene Kinderheim von Krasnoarmejsk unterstützt. Und jetzt kommen seit einem Jahr Krieg und Flucht hinzu. Knapp eine Million Ukrainer haben nach UN-Angaben ihre Heimat bislang verlassen. Richtung Osten nach Russland, in die andere Richtung nach Kiew oder gleich viel weiter in die wohlhabenderen Gegenden im Westen der Ukraine. "Ich habe noch genug Freunde in Donezk, natürlich haben viele von ihnen die Stadt verlassen, doch genug sind immer noch da", glaubt Kristina. Und jetzt halte der Waffenstillstand in der Stadt ja auch - "also, man schießt nicht mehr so oft". Jetzt werde die Stadt ja wieder aufgebaut, ihre Freundinnen bekämen Geld, Leben sei wieder in Donezk, das sagten sie doch immer am Telefon: "Aber genau weiß ich es auch nicht." Schuld an dem ganzen sei ja eher die Regierung in Kiew, glaubt sie nach all den Gesprächen und Internet-Chats. Aber jetzt werde ihr doch eben auf ukrainischer Seite der Front geholfen? Kristina zuckt mit den Schultern. Ungewissheit, was denn nun richtig und was falsch ist.
Ferienlager auf der Krim
Im Gang des einstöckigen Kinderheimes hängen Fotos aus besseren Zeiten: Verschmitzt dreinblickende Kinder und Jugendliche am Strand. "Einmal im Jahr gehen wir immer auf die Krim ins Ferienlager", sagt Heimleiter Alexej Kagan. "Wir gehen", sagt er im Präsens. Dass es damit womöglich für lange Zeit vorbei ist, seitdem Russland vergangenes Jahr das Schwarzmeer-Idyll annektiert hat und derzeit zu einem noch größeren Truppenstandort ausbaut – daran mag er jetzt noch nicht denken. "Die Ukraine hat entschieden, in Richtung Europa zu gehen." Vor mehr als einem Jahr mit der "Revolution der Würde" auf dem Maidan in Kiew und vielen anderen Städten. "Irgendjemanden stört, dass wir das machen wollen, dass wir uns von innen verändern wollen", sagt er zum Abschied vor dem Kinderheim auf einem nur schlecht gepflasterten Feldweg am Ende der Straße, wo sie ihre kleine Zufluchtsstätte eingerichtet haben. Die Bäume in den kleinen Vorgärten blühen - die Häuser sehen nicht anders aus als in armen Gegenden im Osten der Europäischen Union.