Ukraine: Ist Pokrowsk noch zu retten?
31. August 2024"Wir fahren erstmal nach Winnyzja", sagt die Frau, die in den Zug steigt, der sie aus Pokrowsk evakuiert. "Wir haben dort Freunde, aber wir werden uns eine eigene Unterkunft suchen, für die wir dann zahlen müssen", erzählt sie ukrainischen Journalisten. "Als wir die Explosion in der Nacht hörten, haben wir beschlossen: Das Kind muss weg von hier." Wie Tausende andere Bewohnerinnen und Bewohner von Pokrowsk und den umliegenden Städten und Dörfern haben sie und ihre Familie die Evakuierung bis zur letzten Minute aufgeschoben. Jetzt haben sie keine andere Wahl mehr - die Frontlinie ist keine zehn Kilometer von der Stadt entfernt. Vor dem Krieg lebten in Pokrowsk rund 60.000 Menschen. Nun wird die Stadt immer leerer.
Kürzlich räumte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoansprache ein, dass die Lage bei Pokrowsk "äußerst schwierig" sei. Russland habe dort seine größten Kräfte konzentriert. Am Freitag meldete der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte, dass im Laufe des Tages 58 russische Angriffe in der Nähe von Pokrowsk abgewehrt worden seien.
Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) bestätigte diese Woche, dass die russischen Streitkräfte in diesem Gebiet taktische Erfolge verzeichnen konnten und weiterhin "bedeutende taktische Fortschritte südöstlich von Pokrowsk" machen. So seien russische Soldaten in die Orte Selydowe und Nowohrodiwka eingedrungen. Viele Menschen in dem Gebiet um Pokrowsk fragen sich, ob die Stadt das Schicksal von Awdijiwka und anderen eroberten strategischen Knotenpunkten teilen wird.
Pokrowsk hat strategische Bedeutung
Pokrowsk liegt an der Kreuzung der wichtigsten Eisenbahnversorgungsrouten. "Straße des Lebens", so nennen sie die Bewohner der Frontgebiete und das ohne jeden Anflug von Ironie. Die Stadt ist ein logistischer Knotenpunkt. Sie bildet das Rückgrat der ukrainischen Verteidigung und Versorgung von Wuhledar bis in den Norden der Region Donezk, erklärt Oberst Markus Reisner, Offizier im österreichischen Bundesheer und Abteilungsleiter an der Militärakademie in Wien der DW.
Der rasche Vormarsch der russischen Truppen in diesem Gebiet war möglich, nachdem Awdijiwka gefallen war. Die Stadt im Donbass liegt 25 Kilometer östlich von Pokrowsk und wurde im Februar von russischen Einheiten mit massiven "Fleischangriffen" eingenommen. Der euphemistische Begriff bezeichnet eine Taktik, bei der großen Mengen einfach ausgerüsteter Soldaten den Feind regelrecht überrollen sollen - und ihr Tod von den Befehlshabern bewusst einkalkuliert wird.
Awdijiwka war die Festung, die Ortschaften, Eisenbahnlinien und Straßen im Westen der Ukraine schützen sollte. Seitdem hat Pokrowsk diese Funktion übernommen. Doch nachdem die Russen zwei Verteidigungslinien durchbrochen haben, rücken sie nun dicht an die letzte, wenn auch am stärksten verteidigte Linie heran, so Oberst Markus Reisner.
Russland hat leichtes Spiel
Die aktuelle militärische Lage um Pokrowsk ist komplex. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass die russische Armee die Stadt selbst gar nicht einnehmen muss. Sobald sie die Außenbezirke erreicht, werden die ukrainischen Versorgungswege ein leichtes Ziel für die russische Artillerie sein. Das wird dazu führen, dass die Versorgung der Frontlinie und der naheliegenden Städte für die Ukraine schwierig, wenn nicht gar unmöglich wird, so die westlichen Analysten.
Es bestehe kein Zweifel daran, dass die russischen Streitkräfte alles tun werden, um die Stadt und ihre Logistik dem Boden gleich zu machen, warnt im Gespräch mit der DW Gustav Gressel, Berliner Militärexperte beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Das schlimmstmögliche Szenario jenseits der Einnahme von Pokrowsk wäre eine vollständige russische Besetzung der Region Donezk.
Dennoch seien die ukrainischen Streitkräfte selbst dann noch in der Lage, ihre Bodenkorridore zu blockieren, wenn die russischen Truppen die Pokrowsk-Linie erreichen, erklärt Mykhailo Samus, Direktor für internationale Programme am Kiewer Zentrum für Armee-, Konversions- und Abrüstungsstudien, gegenüber der DW.
Kursk und Donbass sind zwei Seiten derselben Medaille
Viele der Brigaden, die die Verteidigung an schwierigen Frontabschnitten in der Ukraine verstärken könnten, sind derzeit in der Kursk-Operation auf russischem Territorium gebunden. Nach Angaben Kiews wurden rund 1300 Quadratkilometer russisches Gebiet und mehr als 100 Ortschaften unter ukrainische Kontrolle gebracht. Die Offensive in Kursk sei Teil eines größeren Plans für den Sieg der Ukraine, sagte Präsident Selenskyj am 27. August auf einer Pressekonferenz in Kiew. Er gab keine Einzelheiten dieses Plans bekannt, versprach aber, ihn im September US-Präsident Joe Biden und den beiden US-Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris und Donald Trump vorzustellen.
Wenn eines der Ziele der ukrainischen Kursk-Offensive darin bestand, Russland zu zwingen, eine kritische Masse an Truppen aus dem Osten der Ukraine Richtung Kursk zu verlegen, dann ist dieses Ziel nach Ansicht von Markus Reisner bisher nicht erreicht worden. "Leider hat die Operation in Kursk keine Auswirkungen auf die Situation im Donbass." Der Kreml habe nur einen Teil der erfahrenen Truppen, die davor im Donbass eingesetzt waren, in die Region Kursk verlegt. Nach Angaben des Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyj, handelt es sich um etwa 30.000 Soldaten.
Gustav Gressel gibt zu bedenken, dass die Kursk-Offensive ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat. "Ja, die Kursk-Operation ist ein riskantes Spiel, das hohe militärische Risiken mit sich bringt. Aber wenn man sich alle Alternativen der Ukraine anschaut, sind sie auch mit hohen politischen Risiken verbunden", betont er - dazu gehörten auch die US-Wahlen im November, die Debatte über die Kürzung der deutschen Hilfe für die Ukraine und rechtzeitige Waffenlieferungen.
Mykhailo Samus hingegen bleibt gelassen. Er lenkt den Blick weg von der Kursk-Offensive auf das Gesamtbild. Es sei nötig, eine südliche Flanke in dem Gebiet zu bilden, und das werde den Vormarsch der russischen Truppen verlangsamen. Außerdem gelte: Je weiter die ukrainische Offensive voranschreite, desto mehr werde der Kreml gezwungen sein, Ressourcen aus der Ukraine abzuziehen und sie nach Kursk zu verlagern. "Sie werfen alle verfügbaren Kräfte auf Pokrowsk, um einen bestimmten Propagandaeffekt zu erzielen", prognostiziert er. "Sie wollen Pokrowsk einnehmen und das als einen Sieg des Jahres darzustellen - und sich dann umgruppieren und versuchen, Reserven in die Region Kursk zu schicken."
Adaption aus dem Ukrainischen: