Ukraine aktuell: Scholz wirft Putin "Großmachtwahn" vor
14. Dezember 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Scholz: Putin hat sich mit Angriff auf Ukraine "fundamental" verrechnet
- 64 ukrainische Soldaten nach Gefangenenaustausch freigelassen
- Russland verkündet keine Waffenruhe über die Feiertage
- Explosionen im Zentrum Kiews nach Drohnenangriffen gemeldet
- IAEA-Experten künftig in allen vier ukrainischen AKWs stationiert
- EU-Parlament ehrt ukrainisches Volk
Bundeskanzler Olaf Scholz hat kurz vor dem EU-Gipfel eine positive Bilanz der Reaktion Europas auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gezogen. Russlands Präsident Wladimir Putin habe sich "fundamental" verrechnet und die Einigkeit Europas und des Westens unterschätzt, sagte Scholz im Bundestag in seiner Regierungserklärung zum anstehenden EU-Gipfel. Putin habe auch Europas Solidarität nicht dadurch austrocknen können, "indem er uns den Gashahn zudreht".
"Kein einziger von Putins Plänen ist aufgegangen", betonte Scholz. Der Kremlchef habe sich getäuscht – "über den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer, über Europa, über uns, über den Charakter unserer Demokratien, über unseren Willen, uns zu widersetzen gegen Großmachtwahn und Imperialismus", sagte der Kanzler. "Das ist die wirkliche Geschichte dieses Jahres 2022." Die Ukraine widerstehe der russischen Aggression, aber auch der Westen habe die Herausforderung angenommen.
"Gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern haben wir die Ukraine entschlossen unterstützt - finanziell, humanitär und mit Waffen. Diese Unterstützung setzen wir fort - und zwar genau so lange, wie sie benötigt wird", bekräftigte Scholz. Er verwies zugleich auf die massive finanzielle Unterstützung der Ukraine und auch Waffenlieferungen. "Es sind ja nicht zuletzt Gepard-Flakpanzer aus Deutschland, die hochwirksam dazu beitragen, dass ziemlich viele russische Flugkörper abgeschossen werden", sagte der Kanzler. Die EU-Staats- und Regierungschefs treffen sich am Donnerstag zu ihrem letzten Gipfel in diesem Jahr.
Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland
Ein weiterer Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland hat nach Angaben Kiews 64 ukrainische Soldaten und einen US-Bürger aus russischer Haft befreit. Der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, erklärte über Telegram, dass die ukrainischen Soldaten in den Regionen Donezk und Luhansk stationiert gewesen seien und die Stadt Bachmut maßgeblich verteidigt hätten.
Neben den Soldaten waren auch vier Leichen übergeben worden.
Der nun freigelassene US-Bürger ist laut Jermak Teil der ukrainischen Verteidigung gewesen. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass bestätigte, der Amerikaner sei im Juni in der Ostukraine festgenommen worden. Er wurde beschuldigt, an "pro-ukrainischen und antirussischen Demonstrationen" in Cherson teilgenommen zu haben. Sein Anwalt erklärte, der Amerikaner sei "zufällig" in die Versammlungen geraten, wie Tass berichtete. Der US-Bürger arbeite in einem Nachtclub in Cherson und habe nicht im Krieg gekämpft. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurden bislang mehr als 1.300 Kriegsgefangene an sein Land übergeben.
Keine Waffenruhe über die Feiertage
Russland kündigte hinsichtlich der bevorstehenden Weihnachtstage keine Waffenruhe in der Ukraine an. Der Kreml erklärte, dass weder an Weihnachten noch an Neujahr eine Pause von den Angriffen vorgesehen sei. Die Ukraine habe nicht um eine Waffenruhe gebeten. "Niemand hat diesbezüglich einen Vorschlag gemacht, das Thema steht nicht auf der Tagesordnung", sagte der Sprecher des russischen Präsidialamts, Dmitri Peskow, vor Journalisten.
Ein Datum für Putins Ansprache vor dem russischen Parlament wurde nicht bekannt gegeben, seine jährliche Jahresabschluss-Pressekonferenz wurde abgesagt. Peskow betonte, dass Putin bei anderen Anlässen mit der Presse spreche.
In Russland wird Weihnachten nach dem orthodoxen Kalender am 7. Januar gefeiert. Die Feiertage erstrecken sich in der Regel vom Neujahrstag bis nach dem 7. Januar. Russland schließt einen Truppenabzug aus der Ukraine aus und will die die Kämpfe fortsetzen.
Explosionen im Zentrum Kiews nach Drohnenangriffen gemeldet
Im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist es nach mutmaßlichen Drohnenangriffen zu Explosionen gekommen. "Explosionen im Stadtteil Schewtschenkiwskyj in der Hauptstadt. Rettungskräfte sind auf dem Weg", schreibt Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Onlinedienst. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat die ukrainische Luftabwehr 13 "Schahed-Drohnen" iranischer Bauart über Kiew und der nahegelegenen Region abgeschossen. Wie die Militärverwaltung der Stadt mitteilte, beschädigten Drohnentrümmer zwei Verwaltungsgebäude. Berichte über Verletzte gab es zunächst nicht. Luftalarm gab es in der Hauptstadt, dem umgebenden Gebiet sowie in Schytomyr und Winnyzja.
Das russische Militär fliegt seit Wochen regelmäßig Angriffe auf die Energieinfrastruktur in der Ukraine. Millionen von Menschen sind ohne Strom und Heizung der Winterkälte mit Minusgraden ausgesetzt. Der Iran hatte jüngst zugegeben, Russland mit Drohnen beliefert zu haben. Die EU beschloss wegen der Drohnen-Lieferungen eine Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran.
Präsident Selenskyj dankt für internationale Winterhilfe
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat der internationalen Gemeinschaft für die am Dienstag in die Wege geleitete Winter-Soforthilfe in Milliardenhöhe gedankt. "Jeden Tag schöpfen wir neue Kraft für die Ukraine, um diesen Winter zu überstehen, und ich danke allen, die sich dafür einsetzen und unserem Staat helfen", sagte Selenskyj am Abend in seiner täglichen Videoansprache.
In Paris waren Vertreter von rund 70 Staaten zusammengekommen, um dem vom russischen Angriffskrieg schwer getroffenen Land unter die Arme zu greifen. Hilfe von einer Milliarde Euro soll vor allem der Instandsetzung der stark beschädigten Strom- und Wärmeversorgung zugute kommen, ebenso der Wasserversorgung, dem Transport- und Gesundheitswesen sowie dem Ernährungsbereich.
Das russische Militär hat zuletzt die gesamte Energie-Infrastruktur der Ukraine ins Visier genommen, um die Bevölkerung im Winter unter Druck zu setzen.
Französische Wirtschaft plant Wiederaufbau
Im Anschluss an die Konferenz wurden auf einem separaten Treffen in Paris die Weichen für eine Beteiligung der französischen Wirtschaft am Wiederaufbau der Ukraine gestellt. Rund 700 französische Unternehmen zeigten sich an diesen Gesprächen interessiert.
"Ukrainische Regierungsbeamte boten französischen Unternehmern Möglichkeiten, in der Ukraine zu investieren, sogar jetzt, während der Krieg noch andauert, und nach unserem Sieg", sagte Selenskyj. Er sei allen Franzosen dankbar für ihre Unterstützung der Ukraine - nicht nur politisch, nicht nur bei Verteidigung und Sanktionen, was von entscheidender Bedeutung sei, sondern auch dafür, dass sie die Notwendigkeit wahrnähmen, "den Wert des menschlichen Lebens, die Menschenwürde und die humanitären Möglichkeiten, die die moderne Welt jedem bietet, zu schützen".
Auszeichnung für das ukrainische Volk
Das Europäische Parlament hat dem ukrainischen Volk, vertreten durch seinen Präsidenten Selenskyj und die Zivilgesellschaft des Landes, den mit 50.000 Euro dotierten Sacharow-Menschenrechtspreis überreicht. "Heute ist der 293. Tag des Krieges", sagte Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in Straßburg. "Die mutigen Menschen der Ukrainer riskieren jeden Tag ihr Leben, um ihre Freiheit und unsere Werte zu verteidigen."
Selenskyj war per Video zugeschaltet. Er dankte dem Parlament für die Auszeichnung, den Bürgern der Ukraine für ihren mutigen Widerstand und ehrte die Opfer des Krieges mit einer Schweigeminute innerhalb seiner Rede. Im Anschluss gab es im Parlament in Straßburg stehende Ovationen.
Das Parlament lobte mit dem Sacharow-Preis auch die Rolle von Einzelpersonen, Initiativen und Einrichtungen. Einige der Stellvertreter waren in Straßburg anwesend. Dazu gehörten der Bürgermeister der besetzten Stadt Melitopol, Ivan Fedorow, die Gründerin der medizinischen Evakuierungseinheit "Tairas Engel", Julia Pajewska, und die Menschenrechtsaktivistin und Vorsitzende des Center for Civil Liberties, Oleksandra Matwijtschuk.
Der nach dem 1989 verstorbenen russischen Dissidenten Andrej Sacharow benannte Preis wird seit 1988 vom EU-Parlament an Persönlichkeiten oder Organisationen verliehen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit einsetzen. Er ist mit 50.000 Euro dotiert. Vergangenes Jahr wurde der inhaftierte russische Oppositionelle Alexej Nawalny in Abwesenheit ausgezeichnet, seine Tochter nahm den Preis stellvertretend für ihren Vater entgegen.
Papst fordert bescheideneres Weihnachten für Spenden an Ukraine
Lieber Geld an die Ukraine spenden als für Geschenke und Feierlichkeiten an Weihnachten ausgeben: Dazu rief Papst Franziskus am Mittwoch in seiner wöchentlichen Ansprache im Vatikan auf. "Lasst uns ein bescheideneres Weihnachten haben, mit bescheideneren Geschenken", sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche, "lasst uns das, was wir sparen, Ukrainern geben, die es brauchen." Papst Franziskus wies auf das aktuelle Leid vieler Menschen in dem vom Krieg mit Russland gebeutelten Land hin. "Sie hungern, frieren. So viele sterben, weil es keine Ärzte und Krankenpfleger gibt", sagte Franziskus. Der Argentinier betet wöchentlich für die Menschen in dem osteuropäischen Land, die unter dem russischen Angriffskrieg leiden. Franziskus rief dazu auf, ihnen eine "konkrete Geste" entgegenzubringen.
Cherson-Besuch von Griffiths verärgert Russland
UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths hat bei einem Besuch der erst vor kurzem befreiten südukrainischen Stadt Cherson für Verärgerung bei den russischen Besatzern auf der anderen Seite des Flusses Dnipro gesorgt. Der von Moskau eingesetzte regionale Verwaltungschef Wladimir Saldo unterstellte dem UN-Vertreter am Dienstag, unerlaubt und illegal die Grenze zu russischem Staatsgebiet überquert zu haben. "Das ist unverschämt, beschämend und unanständig", wurde Saldo von der russischen Staatsagentur Tass zitiert.
Nach dem Einmarsch in die Ukraine hat Moskau nach Scheinreferenden völkerrechtswidrig vier Gebiete in der Süd- und Ostukraine annektiert, darunter auch die Oblast Cherson. Ukrainischen Truppen war es jedoch im Herbst gelungen, die Stadt Cherson zu befreien und die russischen Besatzer über den Fluss Dnipro zurückzudrängen.
Griffiths hatte sich am Dienstag ein Bild von der Lage der Zivilbevölkerung in Cherson gemacht. UN-Sprecher Stéphane Dujarric wollte die Vorwürfe Saldos nicht kommentieren. Er verwies lediglich darauf, dass die Vereinten Nationen die von Moskau orchestrierten Referenden nicht anerkennen.
IAEA-Experten in allen ukrainischen AKWs
Sicherheitsexperten der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA sollen künftig permanent in allen vier ukrainischen Kernkraftwerken stationiert werden. Darauf einigten sich IAEA-Chef Rafael Grossi und der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal am Dienstag am Rande der Geberkonferenz in Paris.
Derzeit überwacht nur im russisch besetzten Atomkraftwerk Saporischschja ständig ein IAEA-Team die Lage und liefert unabhängige Berichte über das größte europäische AKW, das immer wieder unter Beschuss geraten ist. Indirekt soll die Präsenz der IAEA auch schwerwiegende Angriffe verhindern, die einen Atomunfall verursachen könnten.
Nun sollen auch die drei restlichen AKWs in der Ukraine dauerhaft durch die IAEA überwacht werden. Die Anlagen stehen unter ukrainischer Kontrolle. "Angesichts der beispiellosen kriegsbedingten Probleme der ukrainischen Energie-Infrastruktur mitten im Winter" sei die Anwesenheit der internationalen Experten dennoch sehr wichtig, sagte Grossi.
Der Chef der in Wien ansässigen IAEA verhandelte mit Schmyhal am Dienstag auch erneut über eine Sicherheitszone und Waffenruhe um das AKW Saporischschja. "Auch wenn wir noch nicht am Ziel sind und noch Arbeit vor uns liegt, bin ich zunehmend optimistisch, dass solch eine immens wichtige Zone in naher Zukunft vereinbart und umgesetzt wird", sagte Grossi.
Gericht in Kiew wegen Korruption aufgelöst
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Auflösung eines Kiewer Gerichts wegen Korruption angekündigt. "Diese Geschichte ist zu Ende", sagte er bei der Unterzeichnung eines Gesetzes zur Auflösung des Bezirksverwaltungsgerichts, das von ukrainischen Anti-Korruptionsbehörden mit einer kriminellen Organisation verglichen worden war. "Aber die Geschichte der Reformen geht weiter - sie geht weiter, sogar in Zeiten eines solchen Krieges", sagte das Staatsoberhaupt.
Voraussetzung für den von der Ukraine angestrebten Beitritt zur Europäischen Union (EU) sind unter anderem umfangreiche Reformen zur Erfüllung einer Vielzahl von Standards im Justizwesen über Finanzdienstleistungen bis hin zur Lebensmittelsicherheit.
Neuseeland will bei Minenräumung helfen
In einer Videoansprache an das neuseeländische Parlament hat Präsident Selenskyj um Hilfe bei der Minenräumung gebeten: "Es kann kein Kind wirklich in Frieden leben, so lange es von einer versteckten russischen Mine getötet werden kann."
In der Ukraine seien 174.000 Quadratkilometer Land "mit Minen oder nicht explodierten Sprengköpfen verseucht", sagte Selenskyj. Das entspricht ungefähr der Größe von Staaten wie Kambodscha oder Syrien. Auch im Schwarzen Meer treiben seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine unzählige Minen der russischen Armee.
Die neuseeländischen Streitkräfte gelten als besonders erfahren im Bereich der Minenräumung. Selenskyj rief die Regierung in Wellington auf, die internationalen Anstrengungen zur Minenräumung in seinem Land anzuführen. Nach Selenskyjs Ansprache stellte Regierungschefin Jacinda Ardern Hilfe auch in diesem Bereich in Aussicht.
Außerdem wird Neuseeland weitere humanitäre Hilfe für umgerechnet rund zwei Millionen Euro beisteuern, um die Menschen in der Ukraine besser durch den Winter zu bringen. Das Land hat Kiew auch schon Waffen geliefert, zudem hilft es bei der Ausbildung ukrainischer Soldaten.
185.000 Geflüchtete in Integrationskursen
Bislang haben etwa 185.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland einen Integrationskurs begonnen. Das berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit Verweis auf Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Mehr als ein Drittel der über eine Million Geflüchteten aus der Ukraine sind der Behörde zufolge minderjährig. "Für sie gilt auch in Deutschland Schulpflicht, der Integrationskurs richtet sich daher nur an Erwachsene", fügte der Sprecher hinzu. Viele Geflüchtete wollen laut BAMF schnell zurück in die Ukraine: Die Menschen seien gerade erst dem Kriegsgeschehen entkommen und machten sich Hoffnung, sobald es möglich sei, wieder zurückzukehren, hieß es. Es sei alles andere als selbstverständlich, "dass eine solch große Zahl aus eigenem Antrieb so schnell die deutsche Sprache lernen möchte".
Integrationskurse bestehen nach Angaben des Bamf aus insgesamt 700 Stunden. Der Spracherwerb macht davon 600 Stunden aus, in den anderen 100 Stunden geht es etwa um Werte, Rechtsordnung oder das Gesellschaftssystem.
los/sti/kle/fab/mak/cw (dpa, afp, rtr, unocha.org)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.