Aktuell: Größte Fluchtbewegung seit Zweitem Weltkrieg
8. Januar 2023Das Wichtigste in Kürze:
- UN-Hilfswerk sieht größte Fluchtbewegung seit Zweitem Weltkrieg
- Todesopfer bei neuen russischen Angriffen
- Ukraine hat weltweit größtes Minenfeld
- Russland und Ukraine tauschen je 50 Gefangene aus
- Dutzende russische Künstler auf neuer Sanktionsliste
Der russische Angriff auf das Nachbarland Ukraine hat nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zur größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit seien ohne Beispiel in der Geschichte von Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg, hieß es in einer Mitteilung. "Mehr als 7,9 Millionen Menschen sind aus dem Land geflohen, weitere 5,9 Millionen sind innerhalb der Ukraine vertrieben", sagte die UNHCR-Vertreterin in Deutschland, Katharina Lumpp. Knapp 14 Millionen Menschen entsprechen rechnerisch mehr als einem Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes von etwa 41 Millionen.
Deutschland unterstützte UNHCR mit Rekordbeitrag
Lumpp würdigte die deutsche Unterstützung des UNHCR. Mit mehr als 507 Millionen Euro habe Deutschland 2022 seinen bisher größten finanziellen Beitrag geleistet und sei nach den USA erneut weltweit der zweitgrößte Geldgeber.
"Dank dieser Gelder können wir Flüchtlinge zu Sicherheit und Schutz verhelfen und sie vielfältig unterstützen", sagte die UNHCR-Vertreterin. Deutschland sei ein wichtiges Land für den Flüchtlingsschutz, ein zuverlässiger humanitärer Geber in akuten Notlagen und langanhaltenden Krisen sowie ein großes Aufnahmeland für Flüchtlinge.
Tote bei neuen russischen Angriffen
Trotz der von Russland verkündeten Waffenruhe zum orthodoxen Weihnachtsfest sind bei Luftangriffen in der Ukraine nach ukrainischen Angaben zwei Menschen getötet und neun weitere verletzt worden. Infolge der "bewaffneten Aggression Russlands" seien in den vergangenen 24 Stunden in der östlichen Region Donezk ein Mensch getötet und acht weitere verletzt worden, sagte der Vizechef des Präsidialamts, Kyrylo Timoschenko, an diesem Sonntag. Im gleichen Zeitraum sei in der nordöstlichen Region Charkiw ein Mensch getötet und in der südlichen Region Cherson ein weiterer verletzt worden, sagte Timoschenko.
Das ukrainische Verteidigungsministerium teilte in einer separaten Erklärung mit, Russland habe trotz der "sogenannten Waffenruhe" im Laufe des vergangenen Tages "neun Raketen- und drei Luftangriffe geflogen und 40 Angriffe aus Mehrfachraketenwerfern abgefeuert". Dabei sei vor allem die zivile Infrastruktur getroffen worden.
Selenskyj kritisiert Bruch der Waffenruhe
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die von Kremlchef Wladimir Putin über das orthodoxe Weihnachtsfest deklarierte Feuerpause für gescheitert erklärt. "Die Welt konnte einmal mehr sehen, wie falsch Aussagen aus Moskau auf jeder Ebene sind", sagte der 44-Jährige in seiner Videobotschaft am Samstagabend - kurz bevor der von Putin genannte Zeitraum der versprochenen Waffenruhe um 23 Uhr Ortszeit offiziell endete.
Die 36-stündige Feuerpause war am Donnerstag angeordnet worden. Als Begründung dafür wurde aus dem Kreml das Weihnachtsfest genannt, das viele orthodoxe Christen am 7. Januar feiern. Kiew lehnte den russischen Vorstoß von Anfang an als Heuchelei ab, und auch viele internationale Beobachter sprachen von einer reinen Propaganda-Geste. Noch während die Waffenruhe offiziell in Kraft war, räumte Moskau ein, ukrainische Angriffe weiter zu erwidern.
Ministerpräsident: Ukraine hat größtes Minenfeld weltweit
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat nach Angaben des ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal ein 250.000 Quadratkilometer großes Minenfeld in seinem Land geschaffen. "Es ist derzeit das größte Minenfeld weltweit", sagte Schmyhal in einem am Samstag veröffentlichten Interview der südkoreanischen Nachrichtenagentur Yonhap. Das laut Schmyhal verminte Gebiet entspricht mehr als 40 Prozent der gesamten Landfläche der Ukraine. "Das macht es nicht nur schwer für Menschen zu reisen, sondern es verursacht auch größere Störungen in der Landwirtschaft, die eine unserer Hauptwirtschaftszweige ist", so der Ministerpräsident.
Erbitterter Kampf um Bachmut
In der Stadt Bachmut im östlichen Gebiet Donezk starben während der vermeintlichen Feuerpause ukrainischen Angaben zufolge zwei Zivilisten. Bachmut ist bereits seit fünf Monaten unter Beschuss. Die Angriffe nahmen in den vergangenen Tagen allerdings zu. Der Gründer der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat den erbitterten Vorstoß zur Einnahme der Kleinstadt mit den riesigen Tunnelsystemen vor Ort begründet. Darin könnten Truppen und Panzer Unterschlupf finden. Seit dem Ersten Weltkrieg würden in diesen Tunneln Waffen gelagert. Bachmut sei ein wichtiges Logistik-Zentrum mit einzigartigen Verteidigungsstellungen.
Bekannt ist, dass sich in der Region ein Tunnelsystem von Bergwerken über mehr als 160 Kilometern erstreckt. Zu Friedenszeiten wurden in einem großen unterirdischen Saal Konzerte und Fußballspiele abgehalten. Aus US-Kreisen war am Donnerstag verlautet, Prigoschin wolle aus kommerziellen Gründen die Kontrolle über die Salz- und Gipsminen rund um Bachmut übernehmen. Die mutmaßliche militärische Verwendung der unterirdischen Anlagen wurde dabei nicht erwähnt.
Russland und Ukraine tauschen je 50 Gefangene aus
Russland und die Ukraine haben den ersten Gefangenaustausch nach dem Jahreswechsel vollzogen. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, 50 eigene Soldaten seien aus ukrainischer Gefangenschaft freigekommen. Sie seien zur Behandlung und Rehabilitation nach Moskau ausgeflogen worden. Kurz darauf bestätigte die ukrainische Seite den Austausch. Es seien 33 Offiziere und 17 Mannschaftsdienstgrade freigekommen, teilte der Leiter des Präsidialamts, Andrij Jermak, mit. Gefangenenaustausche gibt es zwischen Moskau und Kiew inzwischen regelmäßig. Es ist der einzige Bereich, in dem zwischen beiden Kriegsparteien noch ein Dialog stattfindet, während die Verhandlungen auf anderen Ebenen zum Stillstand gekommen sind.
Russland und Belarus bereiten Übungen der Luftwaffen vor
Russland und Belarus wollen gemeinsame Luftwaffen-Manöver starten. Die Übungen würden vom 16. Januar bis 1. Februar dauern, teilte das Verteidigungsministerium in Minsk mit. Zuvor hatte Belarus angekündigt, die gemeinsamen Landmanöver mit Russland zu verstärken. Die Militärgruppe beider Staaten sei nahezu ununterbrochen im Übungseinsatz und konzentriere sich dabei auf die Kriegsführung in Städten, berichtet das belarussische Militärfernsehen. Dabei würden auch Erfahrungen der russischen Streitkräfte aus den Kämpfen in der Ukraine genutzt. In der Ukraine und westlichen Staaten waren zuletzt Sorgen laut geworden, Russland könne das Territorium seines Verbündeten Belarus für einen weiteren Angriff auf die Ukraine nutzen.
Ukraine setzt Dutzende russische Künstler auf Sanktionsliste
Die ukrainische Regierung will mit einer neuen Sanktionsliste indirekt Druck auf die russische Führung ausüben. In einem am Samstag vom ukrainischen Präsidialamt veröffentlichten Dekret wird unter anderem die in Wien lebende und als Putin-Unterstützerin in die Kritik geratene Opernsängerin Anna Netrebko aufgeführt. Ihr sowie 118 weiteren Personen, darunter auch drei ukrainischen Staatsangehörigen, wird etwa, sofern vorhanden, Vermögen in der Ukraine gesperrt. Auf der Sanktionsliste stehen zudem unter anderem der bekannte russische Musiker Filip Kirkorow sowie Schauspieler und Regisseur Nikita Michalkow.
Ukrainische Medien berichten darüber hinaus, Präsident Selenskyj habe bereits Ende Dezember 13 Geistlichen der ukrainisch-orthodoxen Kirche die Staatsbürgerschaft entziehen lassen. Um wen es sich dabei genau handeln soll, war zunächst aber nicht bekannt. Da das entsprechende Dekret persönliche Daten enthalte, sei es nicht veröffentlicht worden, hieß es. Die ukrainisch-orthodoxe Kirche ist traditionell eng mit Russland verbunden und hatte sich erst mit dem russischen Einmarsch im vergangenen Februar ganz von Moskau losgesagt.
SPD-Chef weiter gegen Lieferung von Kampfpanzern
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil sieht das neue Jahr als entscheidend für den Krieg in der Ukraine an. Er hat daher die Entschlossenheit des Westens betont, das Land gegen die russischen Angreifer zu unterstützen. Russland habe in den vergangenen Wochen mit massiven Angriffen auf die Infrastruktur den Krieg abermals eskaliert, sagte Klingbeil dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die USA, Frankreich und Deutschland gingen jetzt gemeinsam den nächsten Schritt, die Ukraine in der Verteidigung ihrer territorialen Integrität zu unterstützen.
Eine Lieferung von "Leopard"-Kampfpanzern lehnte Klingbeil aber vorerst ab. Es gehe erst einmal darum, sich im internationalen Bündnis abzusprechen, sagte der SPD-Politiker im RTL/ntv-Interview. Für die Bundesregierung sei es immer wichtig gewesen, keine deutschen Alleingänge zu haben. "Kein Land liefert gerade so schwere Kampfpanzer, wie das der 'Leopard' 1 oder 2 ist," so Klingbeil. Eine spätere Lieferung werde er aber nicht ausschließen.
Ampel-Partner wollen Tempo machen
Weniger zögerlich zeigen sich in dieser Frage Abgeordnete der Koalitionspartner. Die Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Wolfgang Kubicki (FDP), machen sich nach der deutschen Zusage, der Ukraine Marder-Schützenpanzer zu liefern, auch für die Lieferung von Kampfpanzern stark. "Wir sollten alles tun und liefern, was möglich ist. Dazu gehören auch Leopard-Panzer", sagte Göring-Eckardt der Funke Mediengruppe. Auch Kubicki hält eine "Leopard"-Lieferung für "vernünftig", betont aber, dass jede weitere Unterstützung eng mit den NATO-Partnern abgestimmt werden müsse.
Die Entscheidung der Bundesregierung vom Donnerstag, rund 40 Marder-Schützenpanzer an die Ukraine zu liefern, stößt bei den Menschen in Deutschland einer Umfrage zufolge auf geteiltes Echo. In einer Befragung des Meinungsforschungsinstitutes Insa für die "Bild am Sonntag" finden 49 Prozent die Entscheidung eher falsch und 40 Prozent eher richtig. Die Lieferung von Kampfpanzern lehnen 50 Prozent ab, 28 Prozent sind dafür.
uh/kle/djo/ack (dpa, rtr, afp, epd, kna)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.