Aktuell: 35 Tote bei Angriff nahe Polens Grenze
13. März 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Hohe Opferzahl bei russischem Angriff auf Stützpunkt bei Lwiw
- Schwere Gefechte im Gebiet von Kiew dauern unvermindert an
- Moskau setzt in Melitopol Statthalterin ein
- 1,7 Millionen Flüchtlinge in Polen angekommen
- Russland und Ukraine sprechen von Fortschritten in Verhandlungen
Das Gebiet um die westukrainische Metropole Lwiw (Lemberg) ist zum ersten Mal seit Kriegsbeginn vor mehr als zwei Wochen von mehreren Explosionen erschüttert worden. Bei einem russischen Angriff auf einen Militärstützpunkt nahe der polnischen Grenze wurden nach jüngsten ukrainischen Angaben 35 Menschen getötet und 134 weitere verletzt. Diese Zahlen nannte Regionalgouverneur Maxim Kozitsky. In dem von Russland angegriffenen Internationalen Zentrum für Friedenssicherung und Sicherheit in Jaworiw nahe Lwiw hätten auch "ausländische Ausbilder" gearbeitet, erklärte Verteidigungsminister Oleksij Resnikow im Onlinedienst Twitter. Der Militärübungsplatz liegt nur rund 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.
Russland bestätigt Angriff
Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte später, bei dem Angriff hätten die russischen Streitkräfte "bis zu 180 ausländische Söldner" sowie eine große Menge Waffen aus dem Ausland zerstört. "Die Vernichtung der auf das Territorium der Ukraine eingereisten ausländischen Söldner wird fortgesetzt", sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow.
Der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowij, schrieb in Telegram, vorläufigen Erkenntnissen zufolge habe die russische Armee von über dem Schwarzen Meer fliegenden Jets rund 30 Marschflugkörper abgefeuert. Die ukrainische Armee gab an, zwei Marschflugkörper zerstört zu haben.
Die Basis in Jaworiw ist eine der größten Militär-Ausbildungseinrichtungen im Westen der Ukraine. Die Ausbilder kamen in der Vergangenheit aus Ländern wie den USA und Kanada. Der Stützpunkt diente auch als Basis für gemeinsame Übungen ukrainischer Soldaten mit NATO-Soldaten. Ob sich die von Resnikow genannten ausländischen Ausbilder zum Zeitpunkt des Angriffs auf dem Stützpunkt befanden, ist noch unklar. Bereits vor Beginn der russischen Invasion hatten ausländische Soldaten das Land verlassen. Die USA hatten Mitte Februar mitgeteilt, 150 ihrer Ausbilder aus der Ukraine abgezogen zu haben.
In Lwiw selbst gab es nach Medienberichten keine Einschläge. Es wurde aber Luftalarm ausgelöst. Die Menschen sollten in Notunterkünften bleiben. Lwiw ist Anlaufstelle von Hunderttausenden Ukrainern, die ihr Land wegen des russischen Angriffs in Richtung Europa verlassen wollen. Bisher galt die Stadt als relativ sicher. Einige Staaten haben deshalb ihre Botschaften von Kiew nach Lwiw verlegt.
Tote auch bei Angriff auf Stadt Mykolajiw im Süden
Bei russischen Angriffen auf die südukrainische Großstadt Mykolajiw wurden nach Behördenangaben neun Menschen getötet. Die Stadt am Schwarzen Meer mit knapp 500.000 Einwohnern ist seit Tagen heftig umkämpft. Dort wurden unter anderem auch Kliniken beschossen. Wenn russische Truppen es schaffen, Mykolajiw zu umgehen oder einzunehmen, stünde ihnen der Landweg in die wichtige südwestukrainische Hafenstadt Odessa offen.
Der Bürgermeister von Iwano-Frankiwsk, einer weiteren Stadt in der Westukraine, meldete einen Angriff auf den dortigen Flughafen. "Nach vorläufigen Informationen stammten die Explosionen heute Morgen von einem Angriff auf den Flughafen", schrieb Ruslan Marzinkiw auf Facebook. Iwano-Frankiwsk liegt hundert Kilometer südlich von Lwiw.
Weiter heftige Kämpfe in der Hauptstadtregion
Die Gefechte rund um die Hauptstadt Kiew gehen nach Angaben der ukrainischen Armee unvermindert weiter. Es gebe heftige Kämpfe in Irpin und Makariw, teilte das Militär am Sonntagmorgen mit. Ähnlich sei die Lage auch in anderen Dörfern, die humanitäre Lage werde immer schlechter. Allein am Samstag wurden etwa aus Butscha, Irpin, Hostomel und Worsel nordwestlich von Kiew etwa 20.000 Menschen evakuiert. werden. Nach Darstellung des ukrainischen Präsidentenberaters Mychailo Podoljak befindet sich Kiew im "Belagerungszustand". Die Vorstädte im Nordwesten der Metropole werden seit Tagen von schweren Luftangriffen erschüttert.
US-Journalist bei Angriff getötet
In der schwer umkämpften Ortschaft Irpin bei Kiew ist ukrainischen Angaben zufolge ein US-Reporter getötet und ein weiterer verletzt worden. Die beiden Männer seien unter russischen Beschuss geraten, teilte die Polizei der Region mit. Die Angaben wurden von einem Arzt vor Ort und einem Berater des ukrainischen Innenministers bestätigt. Später bestätigte das auch der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Laut dem Mediziner waren die beiden Journalisten mit einem ukrainischen Zivilisten in einem Auto unterwegs, als der Wagen von Kugeln getroffen wurde.
Massengrab in Butscha
Nach heftigen Kämpfen mit russischen Truppen wurden in der ukrainischen Stadt Butscha bei Kiew 67 Zivilisten in einem Massengrab beigesetzt. Die Nachrichtenagentur Unian veröffentlichte ein entsprechendes Video. Zu sehen ist darin, wie Leichen in schwarzen Plastiksäcken von einem Lastwagen in eine ausgehobene Grube gelegt werden. Im Hintergrund ist eine Kirche zu sehen. Ukrainische Medien zitierten einen Arzt, wonach nicht alle Leichen identifiziert worden seien. In der nordwestlich von Kiew gelegenen Stadt waren Berichten zufolge Wohnhäuser durch Beschuss zerstört worden.
Seit Kriegsbeginn vor mehr als zwei Wochen wurden nach Darstellung des russischen Verteidigungsministeriums schon mehr als 3500 ukrainische Militärobjekte zerstört. Diese Angaben ließen sich nicht überprüfen. Russland behauptet, nur militärische Ziele anzugreifen. Die Vereinten Nationen haben dagegen Informationen über den völkerrechtswidrigen Einsatz von Streumunition durch russische Truppen im Ukraine-Krieg - auch in besiedelten Gebieten.
Evakuierungen aus Mariupol erneut gescheitert
US-Satellitenbilder zeigen gravierende Schäden an ziviler Infrastruktur und Wohngebäuden in der Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine. Dutzende Hochhäuser seien schwer beschädigt worden und es habe Brände gegeben, teilte der amerikanische Satellitenbetreiber Maxar Technologies mit. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hatte zuvor gesagt, Mariupol sei von russischen Streitkräften belagert worden, stehe aber noch unter ukrainischer Kontrolle.
Ein neuer Anlauf, Zivilisten aus Mariupol in Sicherheit zu bringen, ist auch am Sonntag wieder gescheitert. Die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk berichtete, ein Rettungskonvoi habe wegen andauernder russischer Luftangriffe nicht in die Stadt fahren können. Am Montag solle es einen neuen Versuch geben. Bisher war noch kein Vorstoß erfolgreich, Hilfsgüter in die umkämpfte Stadt am Asowschen Meer zu transportieren und Einwohner herauszuholen. Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld daran.
Auf anderen "humanitären Korridoren" kamen Evakuierungen aber zustande. Laut Wereschtschuk konnten darüber am Samstag etwa 13.000 Menschen aus umkämpfen Gebieten herausgeholt werden. Das seien fast doppelt so viele wie am Freitag, hieß es.
Russische Statthalterin in Melitopol
Erstmals hat Russland in einem eroberten Gebiet eine eigene Statthalterin eingesetzt. Die prorussische Abgeordnete Halyna Daniltschenko rief die Einwohner der südukrainischen Stadt Melitopol auf, sich "an die neue Realität" anzupassen. Zugleich verlangte sie, die Einwohner sollten nicht mehr gegen die russischen Besatzungstruppen demonstrieren. "Trotz unserer Anstrengungen, gibt es noch immer Leute in der Stadt, die versuchen, die Situation zu destabilisieren und Euch zu extremistischen Handlungen auffordern", sagte Daniltschenko in einer Videobotschaft. Sie wolle ein "Komitee der Volksdeputierten" schaffen, das die Stadt mit knapp 150.000 Einwohnern leitet.
Melitopols Bürgermeister Iwan Fedorow war zuvor nach Kiewer Angaben von russischen Kämpfern verschleppt worden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte Fedorows Freilassung, in der Stadt demonstrierten mehrere Hundert Einwohner für das gewählte Stadtoberhaupt. Selenskyj drohte Daniltschenko mit dem Tod. Örtliche Medien bezeichneten die Abgeordnete in Anlehnung an die SS-Besatzungstruppen im Zweiten Weltkrieg als "Gauleiterin im Rock".
Auch in der eroberten südukrainischen Stadt Cherson gibt es offensichtlich Bestrebungen, die russische Besatzung abzusichern. Wie Selenskyj sagte, strebt Russland die Bildung einer "Volksrepublik Cherson" an - demnach wäre ein ähnliches Modell wie in den als unabhängig anerkannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk denkbar.
Russland und Ukraine sprechen von Fortschritten in Verhandlungen
Im Ringen um eine Verhandlungslösung im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich beide Seiten zurückhaltend optimistisch geäußert. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak erklärte in einem online veröffentlichten Video, Russland verhandle konstruktiver als bisher und habe begriffen, dass die Ukraine keine grundsätzlichen Zugeständnisse mache. Er rechne mit ersten Ergebnissen in den kommenden Tagen. Der russische Unterhändler Leonid Sluzki erklärte der Agentur RIA zufolge, beide Delegationen könnten bald zu einer gemeinsamen Position kommen. Seit Verhandlungsbeginn habe es substanzielle Fortschritte gegeben.
1,7 Millionen Flüchtlinge in Polen
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich fast 1,7 Millionen Menschen in Polen in Sicherheit gebracht. Das teilte der polnische Grenzschutz auf Twitter mit. Allein am Samstag hätten rund 79.800 Menschen die Grenze überschritten, eine Zunahme um fünf Prozent gegenüber dem Vortag. Besonders stark war der Zustrom demnach am Grenzübergang Medyka in der Woidwoschaft Karpatenvorland. An diesem Sonntag seien bis 7.00 Uhr morgens weitere 16.800 Ukrainer registriert worden, hieß es. Es gibt derzeit keine offiziellen Angaben dazu, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen geblieben und wie viele bereits in andere EU-Staaten weitergereist sind.
In Polen werden an diesem Wochenende Sonderzüge eingesetzt, um Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland zu bringen. Dies sei eine Art "Pilotversuch", wie das Angebot von denjenigen Ukrainern genutzt werde, die nach Deutschland, Belgien, die Niederlande oder in andere westliche Länder weiterreisen wollten, sagte der stellvertretende polnische Innenminister Pawel Szefernaker. Polen und die Ukraine verbindet eine mehr als 500 Kilometer lange Staatsgrenze.
Neue App für Geflüchtete
Eine App soll Ukraine-Flüchtlingen bald einen Überblick über Hilfsangebote in Deutschland geben. Die Anwendung mit dem Namen "Germany for Ukraine" werde gerade entwickelt und könnte innerhalb der nächsten Tage fertig sein, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Zweiten Deutschen Fernsehen. In Polen gebe es bereits eine ähnliche App. Die Registrierung der Kriegsflüchtlinge finde aber bereits elektronisch statt, hob Faeser hervor. Außerdem stehe sie jeden Tag im Austausch mit Vertretern der Bundesländer, um Probleme bei der Aufnahme der Flüchtlinge zu beheben. Die deutsche Bundespolizei hat bislang mehr als 135.500 ukrainische Kriegsflüchtlinge registriert. Da es keine festen Grenzkontrollen gibt, dürfte die tatsächliche Zahl der Ankömmlinge weit höher liegen.
Stoltenberg warnt Moskau vor Chemiewaffen-Einsatz
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Russland vor einem Angriff mit Chemiewaffen in der Ukraine gewarnt. "In den vergangenen Tagen haben wir absurde Behauptungen über chemische und biologische Waffenlabore vernommen. Der Kreml erfindet falsche Vorwände bei dem Versuch, zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist", sagte Stoltenberg der "Welt am Sonntag". "Nachdem diese falschen Behauptungen nun aufgestellt wurden, müssen wir wachsam bleiben, weil es möglich ist, dass Russland selbst Einsätze mit chemischen Waffen unter diesem Lügengebilde planen könnte", fügte Stoltenberg hinzu. Dies wäre ein "Kriegsverbrechen". Russland hatte die ukrainische Regierung beschuldigt, zusammen mit den USA Labore zur Herstellung von Biowaffen zu betreiben.
Wieder Hunderte Festnahmen bei Antikriegs-Protesten in Russland
Bei neuen Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine sind in Russland nach Angaben von Bürgerrechtlern landesweit mehr als 800 Menschen festgenommen worden. Zu den Festnahmen sei es bei Protesten in mehr als 30 Städten gekommen, teilte die Organisation Owd-Info mit. Aktionen gab es demnach etwa in Wladiwostok im äußersten Osten Russlands und in Irkutsk am Baikalsee sowie in den sibirischen Städten Tomsk und Nowosibirsk. Bilder und Videos in sozialen Netzwerken zeigten, wie Menschen von Polizisten mit Schutzhelmen und schwerer Ausrüstung weggezerrt wurden. Insgesamt wurden den Angaben von Owd-Info seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar mehr als 14.000 Menschen festgenommen.
In der Hauptstadt Moskau ist ein bei Touristen beliebter Platz direkt am Kreml mit Metallgittern weiträumig abgesperrt. Für den Fall neuer Proteste stehen Hundertschaften der Sonderpolizei OMON bereit, teils mit schusssicheren Westen und Helmen. Bewaffnete sind auch vor der Staatsduma zu sehen. Viele Gefangenen-Transporter stehen bereit.
Russen inspizieren AKW Saporischschja
Im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja sind Vertreter des russischen Atomkonzerns Rosatom eingetroffen. Sie wollten die Strahlung am AKW überprüfen, teilte die ukrainische Atombehörde Energoatom mit. Begleitet werden die Rosatom-Vertreter demnach von Ingenieuren, die "bei der Reparatur des Kraftwerks helfen" sollen. Die Maßnahmen, die den "sicheren Betrieb der ukrainischen Atomkraftwerke" gewährleisten sollen, würden in "engem Kontakt mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA)" vorgenommen, so Rosatom.
Russische Truppen hatten das größte Atomkraftwerk Europas am 4. März angegriffen und unter ihre Kontrolle gebracht. Dabei geriet ein Schulungsgebäude in Brand. Der Angriff hatte Ängste vor einer Reaktorkatastrophe in Europa ausgelöst.
Biden bewilligt weitere Militärhilfe
Die US-Regierung will den ukrainischen Streitkräften im Rahmen der nächsten Waffenlieferungen vor allem Luftabwehrsysteme zukommen lassen. Das sei momentan "der Fokus", sagte Präsident Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan dem Sender CNN. Biden hatte erst am Samstag weitere 200 Millionen US-Dollar für Waffenlieferungen bewilligt. Das Paket umfasst nach Angaben eines Insiders unter anderem Systeme zur Panzer- und Flugabwehr, Kleinwaffen sowie Soldaten-Training. Andere Staaten, unter ihnen Deutschland, haben der Ukraine ebenfalls bereits Waffen geliefert oder zugesagt, darunter Flugabwehrraketen.
qu/sti/wa/kle/rb/AR (dpa, afp, rtr, epd)