Türkei: Ein Pakt zwischen Mafia und Politik?
13. November 2021Spätestens seit dem Putschversuch 2016 und der anschließenden Verhaftungswelle sind die Gefängnisse in der Türkei völlig überfüllt - die Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus ist in den engen Haftanstalten besonders hoch. Im vergangenen Jahr reagierte die türkische Regierung: Ein Amnestie-Gesetz ermöglichte die vorzeitige Freilassung von rund 90.000 Gefangenen. Während jedoch zahlreiche Journalisten, Oppositionelle oder Gefangene mit Vorerkrankungen in Haft blieben, profitierten etwa Menschen wie der berüchtigte Mafiaboss Alaattin Cakici - seit April 2020 ist er wieder auf freiem Fuß.
Ende Oktober 2021 wurde nun auch Kürsad Yilmaz, eine weitere Größe der türkischen Unterwelt, freigelassen. Yilmaz war unter anderem wegen Mordes, der Gründung einer kriminellen Organisation und der Anstiftung zur Ermordung eines Bürgermeisters zu 66 Jahren Haft verurteilt worden. Nach einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde er jedoch nach 17 Jahren Haft überraschend freigelassen.
Die beiden Kriminellen eint nicht nur ihr langes Vorstrafenregister; sie stammen auch beide aus dem rechtsextremen Milieu. Sie sind sogenannte "Ülkücüler", zu deutsch: "Idealisten", die in Deutschland unter dem Namen 'Graue Wölfe' bekannt sind. Mit brutalen Gewalttaten, Brandanschlägen und Morden verbreitete die Gruppierung besonders in den 1970er Jahren Angst und Schrecken.
Freundschaftliche Beziehung zum MHP-Chef
Cakici besuchte umgehend nach seiner Freilassung den Chef der ultranationalistischen Partei MHP, Devlet Bahceli. Erdogans Juniorpartner in der Regierung steht den Grauen Wölfen politisch nahe. Nach dem Treffen nahm der Mafiaboss die Opposition ins Visier. In mehreren Briefen, die er in sozialen Medien veröffentlichte, verunglimpfte er den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu, weil dieser seine Freilassung kritisiert hatte. In einem Brief drohte er dem Oppositionsführer unverhohlen damit, ihn auf einem Pfahl aufzuspießen.
Auch Yılmaz traf sich nach seiner Freilassung mit MHP-Chef Bahceli - der offizielle Twitter-Account der MHP veröffentlichte direkt danach ein gemeinsames Foto, auf dem die beiden in Bahcelis Büro zu sehen sind.
Ist der "tiefe Staat" zurück?
Viele Türken erinnert die Nähe zwischen Politik und Unterwelt an ein düsteres Kapitel der türkischen Geschichte: Bereits in den 1990er Jahren ging man davon aus, dass es zwischen hochrangigen Regierungsvertretern und der Unterwelt zahlreiche Verstrickungen gab. Politische Morde oder Fälle, in denen Menschen einfach verschwanden, seien, so wurde vermutet, auf die Machenschaften von kriminellen Organisationen zurückzuführen, die wie ein Staat im Staat unkontrolliert agieren konnten .
Es wird nun zunehmend darüber spekuliert, ob die Mafia der Regierung dabei hilft, ihre Macht "paramilitärisch" abzusichern. Schließlich verliert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zunehmend an Zustimmung in der Bevölkerung, wodurch sein Machtfundament bröckelt. "Die heutige Regierung probiert eine neue Methode, um ihre Machtposition zu retten", vermutet Fikri Saglar, ehemaliger Abgeordnete der oppositionellen CHP und Experte für organisierte Kriminalität. "Es handelt sich um die Methode der Einschüchterung - vor allem von Menschen, die am Wahlprozess beteiligt sind."
Krumme Geschäfte mit der Stadtkasse?
Der Journalist und Mafia-Experte Tolga Sardan vom Nachrichtenportal T24 glaubt eher, dass die Rückkehr der Mafia mit verdeckten Geldströmen zusammenhänge. Dass die Mafiabosse nun als paramilitärische Kraft die Straßen beherrschen werden, hält er hingegen für unrealistisch. Cakici und Yilmaz "organisieren sich gerade, um einen Teil der Finanzmittel unbekannter Herkunft, die insbesondere in Istanbul kursieren, unter Kontrolle zu bringen", so Sardan.
Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2019 verlor Erdogans regierende AKP wichtige Metropolen wie Istanbul an die Opposition - und damit auch deren prall gefüllte Stadtkasse. "Es wird geschätzt, dass in Istanbul jährliche Geldmittel von ungefähr zehn Milliarden Dollar zirkulieren", erzählt Sardan. Gelder, die der Präsident dringend benötige, um sein System der Vetternwirtschaft zu speisen. "Diese Geldsummen haben natürlich eine Anziehungskraft auf die organisierte Kriminalität", so Sardan.
Peker: Ein Insider packt aus
Früher wurden auch dem rechtsextremen Mafiapaten Sedat Peker enge Verbindungen zur Regierung nachgesagt. Doch um einem Haftbefehl zu entgehen, flüchtete er nach Dubai.
Von dort aus bringt der Exil-Mafiaboss seit Monaten die türkische Regierung mit immer neuen Enthüllungen auf YouTube und Twitter in Bedrängnis. Dass die Regierung und die organisierte Kriminalität in einem "tiefen Staat" ihre Kräfte vereinen, wird von Insider Peker bestätigt. Der ultranationalistische Innenminister Süleyman Soylu stand dabei oft im Mittelpunkt: Der Minister - früher ein Weggefährte Pekers - habe ihn gewarnt, als Ermittlungen gegen ihn eingeleitet wurden. Im Gegenzug habe der Mafioso die Karriere des Innenministers unterstützt.
Glaubt man den Anschuldigungen Pekers, gibt es nicht erst seit den Freilassungen von Cakici und Yilmaz eine unheilvolle Allianz zwischen der Politik und der türkischen Mafia. Neben dem Innenminister nannte er zahlreiche weitere namhafte Regierungspolitiker und regierungsnahe Personen, die in kriminelle Machenschaften verwickelt sein sollen.
Mitarbeit von Alican Uludağ