Kein Schutz für inhaftierte Journalisten
3. April 2020Viele türkische Gefängnisse sind seit Jahren überfüllt und stoßen an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazitäten - in den 355 Haftanstalten sitzen ungefähr 300.000 Menschen ein. In der türkischen Öffentlichkeit wird nun darüber diskutiert, ob die hygienischen und medizinischen Bedingungen in den Gefängnissen in Zeiten der Corona-Krise für die Häftlinge noch tragbar sind. Denn das lebensgefährliche Coronavirus könnte sich in den Haftanstalten leicht ausbreiten, so die Sorge.
Das türkische Parlament reagierte mit einer gesetzlichen Änderung auf dieses mögliche Szenario: Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hat diese Woche zusammen mit der ultranationalen MHP dem Parlament einen Entwurf vorgelegt: 90.000 Häftlinge sollen aus den Haftanstalten vorzeitig entlassen werden.
Freilassungen mit zweierlei Maß
Zehntausende Mörder, Sexualstraftäter, Drogendealer und Terroristen dürfen sich nun Hoffnung darauf machen, dass ihr Strafvollzug eingestellt oder zumindest abgemildert wird.
Diese Hoffnung wird von sogenannten "politischen Gefangenen" nicht geteilt, denn politische Andersdenkende, Journalisten und Menschenrechtler sollen von der neuen gesetzlichen Regelung ausgenommen werden.
In der Debatte haben sich jetzt der Journalistenverband TGC, die Journalistengewerkschaft TGS und die NGO Reporter ohne Grenzen (RSF) eingeschaltet. Die Institutionen fordern, dass auch Journalisten im Rahmen der gesetzlichen Änderung freigelassen werden.
Zahlreiche Journalisten schlossen sich im Rahmen der Initiative "Habt ihr gehört?" zusammen und fordern, vor allem in den sozialen Medien, die sofortige Freilassung von Journalisten, damit sie nicht dem Coronavirus zum Opfer fallen.
"Journalismus und Meinungsfreiheit haben nichts mit Terrorismus zu tun", heißt es von dem Journalistenverband TGC. Es sei nicht hinnehmbar, dass Journalisten dafür ausgeschlossen werden, dass sie die Öffentlichkeit informieren, die Wahrheit verbreiten und Fakten liefern.
Keine Rücksichtnahme auf Alter und Vorerkrankungen
Für den Türkei-Repräsentanten von "Reporter ohne Grenzen", Erol Önderoglu, hätte die Freilassung von Journalisten eine Chance zur gesellschaftlichen Aussöhnung werden können. "Die Tatsache, dass friedliche Denker und Journalisten nicht von dem Gesetz profitieren werden, ist ein Zeichen, dass die Polarisierung in der Politik wie gewohnt fortgesetzt wird", klagt Önderoglu. Er finde es ungerecht, dass auf ungerechte Weise festgenommene Journalisten nun auch noch mit dem Coronavirus bestraft würden.
Der ehemalige Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş, sitzt seit November 2016 mit gesundheitlichen Problemen im Hochsicherheitsgefängnis in Edirne. Auch wenn er in diesem Zustand einem erhöhten Risiko durch das Coronavirus ausgesetzt ist, wird der neue Gesetzesentwurf auch für ihn keine vorzeitige Freilassung ermöglichen.
Auf dem Nachrichtendienst Twitter sagte seine Frau: "Wir wissen, dass die Bedingungen in Gefängnissen sehr schlecht sind. Die Epidemie wird in den Gefängnissen zu einer schweren Katastrophe führen. Aus diesem Grund sollten Vorkehrungen wie die Verschiebung des Strafvollzugs oder die Freilassung der Inhaftierten unverzüglich eingeleitet werden."
Seit dem Putsch 2016 sind Journalisten extrem im Visier
Auch der Bruder des berühmten Journalisten und Schriftstellers Ahmet Altan äußerte sich enttäuscht darüber, dass Journalisten in dem Gesetzesentwurf nicht berücksichtigt werden. Sein Bruder sitzt seit 2016 in Haft, 2018 wurde er wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch vom 15. Juli 2016 zu lebenslanger Haft verurteilt. "Ich bin ernsthaft besorgt darüber, dass mein siebzigjähriger Bruder, der nur seine Gedanken ausgedrückt hat und deswegen seit dreieinhalb Jahre im Gefängnis sitzt, nun auch noch mit dem Coronavirus konfrontiert wird", so Mehmet Atan, der nach dem Putschversuch selber zwei Jahre in Haft gesessen hat. Ob der Strafvollzug durchgeführt wird oder ausgesetzt wird, sei für seinen Bruder von großer Wichtigkeit.
Nach Angaben der türkischen NGO Media and Law Studies Association (MLSA) befinden sich zurzeit 97 inhaftierte Journalisten und Medienschaffende im Gefängnis. Sie sind, wie Anwälte, Berufsgruppen, die besonders häufig in das Visier der Justiz geraten.
Ausschlaggebend für die Inhaftierungen sind besonders oft eine mutmaßliche Nähe zu Terrororganisationen, doch viele Prozesse sind umstritten. Bisher reagierte die Regierung noch nicht auf die Forderung von Journalisten und Journalistenvereinigungen.