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Politik

Istanbul-Konvention: Erdogan kündigt

1. Juli 2021

Die Istanbul-Konvention des Europarats soll Frauen in der Türkei vor Gewalt schützen. Per Dekret hat die Regierung nun den Austritt beschlossen. Die Kündigung sei rechtswidrig, sagen Frauenrechtlerinnen und Juristen.

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Türkei Protest der Frauen gegen Austritt aus Istanbul-Konvention
Proteste in der Bosporusmetropole am Tag des offiziellen Austritts aus der Istanbul-KonventionBild: Murad Sezer/REUTERS

Seit Wochen protestieren Frauen in der Türkei gegen den Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen. Tausende Menschen sind auch an diesem Donnerstag wieder auf die Straße gegangen. Bei der Demo im Zentrum der Millionenmetropole Istanbul setzte die Polizei Tränengas gegen die Teilnehmenden ein und versuchte so, die Menge aufzulösen.

In Sprechchören skandierten die Protestierenden unter anderem: "Wir werden sie dazu bringen, die Istanbul-Konvention umzusetzen." Auch in der Küstenmetropole Izmir, der Hauptstadt Ankara und anderen türkischen Städten gab es Proteste.

Per Dekret hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im März Fakten geschaffen: Er kündigte den Austritt aus der Istanbul-Konvention an. Das Abkommen des Europarates aus dem Jahr 2011 soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt durch verbindliche Rechtsnormen unterbinden. Damals unterschrieb die Türkei als erstes Land das Übereinkommen - nun möchte sich die Türkei ab dem 1. Juli wieder davon lösen.

Das Abkommen werde von einer Gruppe von Menschen dazu benutzt, "Homosexualität zu normalisieren", so die Begründung aus dem Präsidentenpalast. Dies sei ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei, begründete der Kommunikationsdirektor des Präsidialamtes, Fahrettin Altun.

Türkei Istanbul | Recep Tayyip Erdogan, Präsident
Die Istanbul-Konvention sei ein Verstoß gegen familiäre und soziale Werte, meint der türkische Präsident ErdoganBild: Emrah Yorulmaz/Anadolu Agency/picture alliance

Hohes Gericht lehnt Klagen ab

Frauenrechtlerinnen, Anwaltskammern und die Opposition hatten dennoch lange Zeit die Hoffnung nicht ganz verloren und versuchten, den türkischen Austritt doch noch abzuwenden. Viele Klagen wurden seit der Ankündigung beim Staatsrat, einem der obersten Gerichte der Türkei, eingereicht, um den Austritt aus der Konvention rückgängig zu machen. Sie wurden enttäuscht: Nur zwei Tage vor dem Austritt entschied das Gericht, alle Klagen abzulehnen. 

Türkei | Yelda Kocak Rechtsanwältin
Anwältin Yelda Kocak klagt gegen den AustrittBild: Privat

"Obwohl wir den Fall damals unmittelbar nach Bekanntgabe des Dekrets eröffnet haben, führte die zehnte Kammer des Staatsrats ein äußerst willkürliches und langsames Verfahren", kritisiert die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Yelda Kocak, die im Namen der türkischen Arbeiterpartei (TİP) eine Klage gegen den Austritt eingereicht hatte. Die Präsidentielle Behörde für Recht und Gesetzgebung habe ihnen erklärt, dass die Klage abgewiesen werden würde, weil sie "ungerecht und ohne Rechtsgrundlage" sei, berichtet Kocak.

Austritt ohne parlamentarische Abstimmung

Andere Anwälte kritisieren, dass der Ausstieg aus der Konvention per Dekret besiegelt wurde. Weil das Parlament damals die Istanbul-Konvention genehmigte, sei es für viele Juristen unverzichtbar, dass erst das türkische Parlament mit einem Gesetz die Beendigung der Istanbul-Konvention einleite. 

Hülya Gülbahar von der Frauenplattform für Gleichstellung (ESIK) verweist zudem darauf, dass das Gesetz "zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie" aus dem Jahr 2012, das die Istanbul-Konvention rechtlich verankern soll, auch nach dem Austritt weiter in Kraft sei. Es soll Frauen vor Gewalt schützen und finanzielle Leistungen oder Schutzunterkünfte für Betroffene bereitstellen.

Häusliche Gewalt in der Türkei Hülya Gülbahar
Hülya Gülbahar: "Wir werden die Istanbul-Konvention nicht aufgeben"Bild: DW/Naomi Conrad

"Solange dieses Gesetz in Kraft ist, wird auch die Istanbul-Konvention in Kraft sein", urteilt Gülbahar. "Wir werden die Istanbul-Konvention nicht aufgeben", fügt sie hinzu. "Das Übereinkommen enthält wichtige Bestimmungen wie das Verbot von Kinderehen, die Festlegung von Stalking und Gewalttaten gegen Frauen als Verbrechen oder das Recht der Frau auf Bildung." Mit dem Austritt aus der Konvention erkläre die Türkei der Welt, dass es nicht die Aufgabe des Staates sei, Gewalt gegen Frauen zu verhindern, so Gülbahar.

Frauenorganisationen sehen sich in einer Revolte gegen den Staat

Zahlreiche Frauenorganisationen hatten bereits vor Wochen angekündigt, am 1. Juli landesweit Aktionen zu starten. Die von mehreren Organisationen unterstützte Kampagnengruppe "Istanbul-Konvention anwenden" drohte an: "Wir machen weiterhin Lärm und sind bis zum 1. Juli täglich auf der Straße, damit die Entscheidung zurückgenommen wird. Wenn die Entscheidung nicht zurückgezogen wird, befinden wir uns ab dem 1. Juli in einer Revolte."

Türkei: Frauen wehren sich

Zwar ließ die Türkei das Übereinkommen 2014 ratifizieren und als Gesetz verankern. Doch in der Praxis, sagen Kritikerinnen und Kritiker, werden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention in der Türkei ohnehin nicht angewandt. Daher konnte die Istanbul-Konvention bereits vor dem Austritt Gewalt gegen Frauen so gut wie nicht verhindern.

Aus dem Türkischen adpatiert von Daniel Derya Bellut