Frauenmorde in der Türkei: Kaum geahndet
8. Dezember 2019Ein weiterer Frauenmord schockiert die türkische Öffentlichkeit und sorgt für eine Welle der Empörung in den sozialen Medien. Das ist geschehen: Am späten Dienstagabend macht sich die 20-jährige Kunststudentin Ceren Özdemir aus der Schwarzmeerstadt Ordu nach dem Ballett-Unterricht auf den Heimweg. Unbemerkt folgt ihr ein Mann bis vor ihre Haustür. Dort zückt er ein Messer und sticht mehrfach auf sie ein. Im Krankenhaus erliegt die Studentin ihren schweren Verletzungen.
Der mutmaßliche Täter war bereits zwölf Mal verurteilt für Delikte wie Kindsmord und Raubüberfall - bevor er die junge Frau tötete, war er aus dem Gefängnis geflohen. Einen Tag später wurde der Mann an einer Bushaltestelle gefasst, die Staatsanwaltschaft ermittelt nun.
Nicht nur die türkische Öffentlichkeit reagierte bestürzt auf die Tat. Auch ranghohe Politiker drückten ihr Beileid aus und kündigten Konsequenzen an. Schließlich sind viele Türken entsetzt darüber, dass ein Mörder aus einem Gefängnis entfliehen konnte.
"Es hat uns alle zutiefst verletzt. Wir alle wünschen uns, dass solche Vorfälle niemals wieder passieren. Unsere Staatsanwaltschaft untersucht alle Aspekte des Vorfalls." Die Umstände der Flucht würden genau geprüft, so Abdulhamit Gül, der türkische Justizminister von der islamisch-konservativen Partei AKP. Auch der türkische Innenminister Süleyman Soylu drückte sein Beileid und bedauerte, dass nichts "unsere Tochter zurückbringen" werde, so der AKP-Politiker.
Dass sich türkische Regierungspolitiker mit Gewalt gegen Frauen befassen, ist keine Selbstverständlichkeit. Sowohl die Regierung als auch die türkische Justiz haben das Problem lange Zeit totgeschwiegen. Und das, obwohl nach den Zahlen der Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" dieses Jahr bereits 430 Morde an Frauen registriert wurden.
Gewalt gegen Frauen wird totgeschwiegen
Doch die Internet-Öffentlichkeit und das Engagement von Frauenrechtsgruppen setzen Regierung und Justiz immer mehr unter Druck. In den vergangenen Monaten machten mehrere Gewaltexzesse Schlagzeilen und illustrierten, dass Gewalt gegen Frauen oft nicht ausreichend geahndet wird.
Für Entsetzen sorgte auch der Mord an der 23-jährigen Sule Cet aus Ankara - und wie die Ermittler die Tat darstellten. Die junge Frau wurde von zwei betrunkenen Männern - einer davon ihr Chef - im Büro vergewaltigt und anschließend aus dem Fenster geschmissen. Der Polizei berichteten die Männer anschließend, dass sich Cet selber das Leben genommen habe. Die Gerichtsmedizin stellte einen Nackenbruch, Risse in der Analregion und betäubende Substanzen im Blut des Opfers fest. Dennoch bewerteten der Gerichtsmediziner und der Strafverteidiger den Vorfall als "einvernehmlichen Sex", schließlich habe Cet "sich entschieden, mit einem Mann an einem abgeschiedenen Ort Alkohol zu trinken".
Der Gerichtsprozess dauerte ein halbes Jahr und wurde von Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen von Frauen sowie von großer Anteilnahme in den sozialen Netzwerken begleitet. Am Dienstag verkündete das Gericht in Ankara, dass ein Täter eine lebenslängliche Haftstrafe erhält, der Mittäter eine Haftstrafe von fast 19 Jahren.
"Wir werden nie vergessen, dass die Untersuchungsbehörde versucht hat, den Fall zu vertuschen. Wir Frauen haben uns widersetzt und Solidarität gezeigt", sagte Hülya Gülbahar, Sprecherin der Frauenrechtsorganisation "Gruppe für die Gleichstellung von Frauen", nach der Bekanntgabe des Urteils.
Internationale Verpflichtung: die Istanbul-Konvention
Frauenrechtsgruppen hoffen nun, dass der öffentliche Druck, der durch solche Fälle entstanden ist, einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführt, der nicht nur von der Zivilgesellschaft getragen wird, sondern auch von Politikern.
Viele türkische Frauen setzen dabei auf die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt aus dem Jahr 2014. Die Unterzeichnerländer haben sich verpflichtet, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen vor fünf Jahren und ließ es als Gesetz zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie rechtlich verankern.
Doch in der Praxis, sagen Kritikerinnen und Kritiker, werden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention nicht angewandt und die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen nicht realisiert. Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen könnten aber nur verhindert werden, wenn Justiz und Strafverfolgungsbehörden das Abkommen auch umsetzen.
Um Gesetze zum Schutz von Frauen anzuwenden, müssen Justiz und Politik entsprechend sensibilisiert sein, betont die Berliner Frauenrechtsaktivistin Sehnaz Kiymaz Bahceci. Aber, schränkt sie ein, "um den Verpflichtungen des Abkommens nachzukommen, fehlt es der Regierung an Willen".
Patriarchale Familienstrukturen
Gökce Yazar von der Anwaltskammer Sanliurfa sieht das Problem in patriarchischen Familienstrukturen und kulturellen Gewohnheiten. "Es ist üblich, dass eine Frau, die von ihrem Mann bedroht wird und Todesangst hat, deswegen beim Staat Schutz sucht. Die gesetzlichen Regelungen sind eigentlich klar, aber dennoch wird ihnen häufig gesagt: 'Geh zurück zu deinem Mann'."
Auch wenn Regierungsmitglieder nun bestürzt auf den Mord an Ceren Özdemir reagieren - der politische Wille, Gewalt gegen Frauen nachhaltig zu bekämpfen, ist bisher nicht zu erkennen. Die linksgerichtete pro-kurdische HDP hatte vorgeschlagen, eine Parlamentskommission zur Untersuchung von Gewalt gegen Frauen zu gründen - das haben die Regierungspartei AKP und die ultranationalistische MHP im November abgelehnt. Als sich am 25. November rund 2000 Frauen zum Internationalen Tag der Gewalt an Frauen in Istanbul versammelten und unter anderem gegen Frauenmorde protestierten, löste die Polizei die Veranstaltung mit Tränengas und Plastikgeschossen auf.