Türkei: Auf der Flucht vor dem Ehemann
25. November 2020Im Wohnzimmer sitzen ihre beiden Kinder dicht nebeneinander - so als ob sie befürchten würden, in jedem Moment voneinander getrennt zu werden. Das Sofa, auf dem sie gerade sitzen, ist gleichzeitig auch ihr Bett. Die 27-jährige Aysel*, die aufgrund von häuslicher Gewalt von zu Hause und ihrem Ehemann weggelaufen ist, hat sich vor kurzem noch in einem Frauenhaus aufgehalten. Ihre Ängste sind nach wie vor da. "Er wird mich töten, ich weiß es", so die zweifache Mutter.
Aysel heiratete im Alter von 17 Jahren und begann in einer fremden Stadt ein neues Leben. In den ersten Jahren erlebte sie keine Gewalt. Doch nachdem ihr Mann illegalen Geschäften nachging, musste er für eine Weile ins Gefängnis. "Nachdem er herausgekommen war, verhielt er sich immer mehr wie ein Mafia-Mitglied. Er fing an, Anzüge zu tragen und führte eine Gebetskette mit sich herum. Dann fing es mit der Gewalt an", erzählt Aysel.
Stundenlange Schläge mit dem Gürtel
Als sie in eine Großstadt umzogen, kam ein weiteres Problem hinzu: Ihr Ehemann wurde spielsüchtig und vernachlässigte die Familie. Um seine Glücksspiele zu finanzieren, verkaufte er Haushaltsgegenstände. Die Familie versank in Schulden. Auch die gewaltsamen Übergriffe hätten weiter zugenommen, sagt Aysel. Sie fühlte sich mit ihren Kindern im eigenen Haus gefangen.
"Der Gewalt waren keine Grenzen gesetzt. Er schlug stundenlang mit einem Gürtel auf mich ein. Es gab keinen Ort, wo ich hätte hingehen können." Als sie ihrer Schwiegermutter von dem häuslichen Terror erzählte, reagierte diese verständnislos. Sie habe lediglich darauf hingewiesen, dass man das Haus üblicherweise im Brautkleid betrete und erst wieder unter einem Leichentuch verlassen könne, erzählt die 27-Jährige.
Was Aysel am meisten trifft: Auch ihre beiden Kinder werden Zeugen der Gewalt. "Ich habe große Angst, dass du sterben wirst, wenn Vater dich weiter schlägt", habe eines ihrer Kinder einmal gesagt.
Schutz vor häuslicher Gewalt - nur in der Theorie
Gesetze zum Schutz von Frauen existieren in der Türkei - doch häufig scheitert es an der praktischen Anwendung. Auch Asyel versuchte sich zu wehren: Sie zeigte ihren Ehemann an, bereits dreimal wurde gegen ihn deshalb ein Kontaktverbot verhangen.
Doch als die Polizei Aysels Mann erlaubte, seine Kleidung von zu Hause zu holen, blieb er einfach dort. Dabei darf laut Gesetz eine Person, der ein Kontaktverbot auferlegt wurde, zu keiner Zeit nach Hause gehen. Ihr Mann wurde auch wegen häuslicher Gewalt zu drei Monaten Gefängnis verurteilt - doch verbüßen musste er letztlich nur drei Tage. Nun hat Aysel Angst, ihren Mann noch einmal anzuzeigen.
Aysel teilt ihr Schicksal mit vielen Frauen
Stattdessen entschied sie sich zu einem anderen Schritt - und bat die Polizei um Aufnahme ins Frauenhaus, gemeinsam mit ihren Kindern. Dort lernte sie viele andere Frauen kennen, die - wie sie - Gewalt erlebten und anschließend allein gelassen wurden. Immer wieder hörte sie von den anderen Frauen Worte wie: "Man hat der Darstellung meines Mannes geglaubt, er wurde freigelassen."
Die mangelnde Konsequenz gegenüber gewalttätigen Männern kann fatale Folgen haben. Laut Schätzungen stirbt jeden Tag mindestens eine Frau in der Türkei an den Folgen von häuslicher Gewalt. Die genaue Zahl ist unbekannt, der Staat veröffentlicht keine Zahlen.
Laut der Föderation der türkischen Frauenhilfsvereine wurden seit Jahresbeginn bis Ende Oktober mindestens 312 Frauen ermordet. Das Innenministerium gab im November jedoch bekannt, dass die Morde an Frauen in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum angeblich um 27 Prozent zurückgegangen seien - statistische Beweise für diese Einschätzung gibt es aber nicht.
Frauenorganisationen verweisen jedoch immer wieder darauf, dass die Gewalt gegen Frauen insbesondere in Zeiten der Pandemie zugenommen hätte und dass keine angemessenen Maßnahmen ergriffen werden, auch wenn von staatlicher Seite das Gegenteil zugesichert wird.
Hinzu kommt: Die Regierung positionierte sich in jüngster Vergangenheit gegen die sogenannte Istanbul-Konvention. Das Übereinkommen des Europarats aus dem Jahr 2011 soll Gewalt gegen Frauen, insbesondere häusliche Gewalt, eindämmen und die Gleichstellung von Mann und Frau stärken. Laut Erdogan sei die Konvention jedoch "sehr falsch", da es traditionelle Geschlechterbilder in Frage stelle. Damit brachte er Frauen im ganzen Land gegen sich auf.
"Das ist alles, was ich will..."
Aysel verbrachte acht Monate im Frauenhaus. Nachdem sie ihrem Ehemann zusicherte, dass er im Falle einer Scheidung keinen Unterhalt zahlen muss, ließen sie sich einvernehmlich scheiden. Irgendwann fand Aysel dann eine günstige Wohnung zur Miete, wo sie mit ihren Kindern hinzog. Die staatliche Sozialhilfe beträgt 175 Euro, die Miete für die Wohnung liegt bei 110 Euro.
Von dem restlichen Geld versucht sie, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. "Ich wünschte, die Behörden würden einmal vorbeischauen und sehen, was ich hier einstecken muss." Aufgrund der finanziellen Engpässe könne sie zudem die Mängel im Haus nicht beheben.
Aysel lebt auch nach der Scheidung noch in permanenter Angst, sie fühlt sich nicht sicher. Eine Verordnung soll zwar dafür sorgen, dass ihre personenbezogenen Daten gegenüber ihrem Ex-Mann verborgen bleiben. Die Verordnung gilt jedoch nicht für ihre Kinder. Aysel hat deshalb beschlossen, ihre Kinder nicht in der Schule anzumelden. Sie befürchtet, dass ihr geschiedener Ehemann dadurch ihren Wohnsitz herausfinden könnte. "Ich weiß, dass er dort am ersten Tag auf uns warten wird", so Aysel.
"Er wurde nie bestraft und deswegen hat er überhaupt keine Angst, er wird die Gewalt fortsetzen. Ich wünschte, jemand würde mir sagen:'Er ist nicht mehr hinter dir her, er wird dir nicht mehr weh tun'. Das ist alles, was ich will."
*Aus Sicherheitsgründen wird das Gesicht der Protagonistin nicht gezeigt und der Name geändert.