"Tödliche Medizin"
11. Oktober 2006Die Ermordung von zehntausenden Behinderten, unheilbar oder psychisch Kranken war die erste systematische Vernichtung von Menschen durch das Nazi-Regime, die sich später in den Konzentrationslagern auf furchtbare Weise fortsetzen sollte. Zudem wurden rund 400.000 vermeintlich "erblich minderwertige" Menschen zwangssterilisiert. Diese vernichtende Rassenpolitik dokumentiert die Ausstellung "Tödliche Medizin - Rassenwahn im Nationalsozialismus" im deutschen Hygiene-Museum in Dresden ab Donnerstag (12.10.). Die Schau genießt hohes internationales Ansehen, weil sie vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington - der wohl bedeutendsten Einrichtung zur Erforschung des Holocausts - übernommen wurde.
"Es ist damit das erste Mal überhaupt, dass die Ausstellung des Washingtoner Holocaust-Museums außerhalb Nordamerikas gezeigt wird", erklärte der Direktor des Hygiene-Museums, Klaus Vogel. "Es ist daher für uns eine große Ehre und eine große Auszeichnung." Zugleich sei es aber auch eine Verpflichtung, sich mit der eigenen deutschen Geschichte auseinander zu setzen.
Durch die Nazis benutzt
Ursprünglich sollte das 1911 in Dresden gegründete Museum den Menschen wissenschaftliche Erkenntnisse über die Hygiene und einen gesunden Lebensstil vermitteln. Ab 1933 benutzten es die Nationalsozialisten aber zunehmend als Propagandainstitut, um ihre vernichtende Rassenpolitik zu verkünden. "Das Hygiene-Museum war keine Täterinstitution in dem Sinne, dass hier Menschen getötet wurden. Aber durch Wanderausstellungen und mit Lehrtafeln, die man zur NS-Zeit massenweise verbreitete, wurde mitgearbeitet an der Definition von vermeintlich lebenswertem oder vermeintlich nicht lebenswertem Leben", erklärt Vogel.
Die aktuelle Ausstellung dokumentiert mit eindringlichen Bild-, Text- und Filmdokumenten, wie die Nazis mit Hilfe von Ärzten und Anthropologen eine so genannte "Gesundheitspolitik" entwickelten, die in der Ermordung Millionen europäischer Juden mündete. Nach dem "Euthanasiebefehl" Adolf Hitlers vom 1. September 1939 begann unter großer Geheimhaltung der Mord an Behinderten, unheilbar oder psychisch Kranken, auch Kindern. Arbeitsunfähige Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und kranke Wehrmachtssoldaten fielen dem Programm ebenfalls zum Opfer.
Deckname "T4"
Die Aktion trug den Tarnnamen "T4", benannt nach der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4. 1940/41 wurden in den sechs zentralen Anstalten, darunter im sächsischen Pirna und im Schloss Grafeneck in Württemberg, mit Hilfe von Ärzten und Pflegern mehr als 70.000 Menschen vergast oder erschossen.
Nach Protesten aus der Bevölkerung und seitens der Kirchen wurde das Massenmorden im Sommer 1941 zwar offiziell eingestellt. Doch das Töten ging versteckt weiter. Zehntausende kamen in unzähligen Anstalten durch Medikamente um oder verhungerten. Viele der verantwortlichen Ärzte wurden nie belangt, sondern praktizierten auch nach dem Krieg.
Das Thema blieb in Deutschland jahrzehntelang ein Tabu. Erst in den 1980er Jahren begann die breite Aufarbeitung. In der Tiergartenstraße 4 erinnert seit 1989 eine kleine Tafel an die Opfer. Viele Krankenhäuser setzen sich inzwischen kritisch mit diesem Kapitel ihrer Geschichte auseinander. Auch das Deutsche Hygiene-Museum bekennt sich mit der Sonderpräsentation zu seiner eigenen Verantwortung als Institution, die die massenhygienischen Programme der Nazis vorbehaltlos unterstützte und propagierte.
Junges Zielpublikum
Angesichts der jüngsten Wahlerfolge der rechtsextremen NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern soll die Ausstellung auch ein Aufruf für mehr Demokratiebewusstsein und gesellschaftliche Toleranz sein. Theaterpädagogische Projekte, Zeitzeugengespräche und Lesungen im Begleitprogramm richten sich gezielt an junge Leute.
In den USA haben innerhalb von zwei Jahren 720.000 Menschen die Schau gesehen. In Deutschland gab es allerdings bereits vor der Eröffnung Kritik von verschiedenen Verbänden wie der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener. Sie haben für Mittwoch zu einer Protestaktion in Dresden aufgerufen. Ihre Kritik: Die Ausstellung verschweige, dass auch nach dem Krieg die Massenmorde in den psychiatrischen Anstalten durch Verhungernlassen weitergingen. Bis 1948/49 seien über 20.000 Menschen der Willkür des medizinischen Personals zum Opfer gefallen. Belegt ist etwa der Fall eines vierjährigen Jungen, der noch Ende Mai 1945 in Kaufbeuren durch eine Giftinjektion getötet wurde, obwohl die US-Armee die Stadt bereits besetzt hatte. (ina)