Tunesien: Hintergründe einer Staatskrise
26. Juli 2021Kaum hatte er seine Entscheidung verkündet, ging der tunesische Staatspräsident Kais Saied am Sonntagabend in den Rechtfertigungsmodus: Ja, er habe im Einklang mit der Verfassung gehandelt, als er Premierminister Hichem Mechichi entließ und das Parlament für 30 Tage auflöste.
Der gelernte Jurist begründete dies mit Paragraph 80 der tunesischen Verfassung. Dieser gesteht dem Präsidenten das Recht zu, bei drohender "schwerer Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes" außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Zudem habe er, ebenfalls der Verfassung entsprechend, vor seinem Schritt die Vorsitzenden der zentralen staatlichen Institutionen und damit unter anderem den Regierungschef und den Parlamentsvorsitzenden - Hichem Mechichi und Rachid al-Ghannouchi - kontaktiert.
Die Aussage des Staatspräsidenten blieb nicht lange unwidersprochen. Noch am Sonntagabend ging Ghannouchi, zugleich Vorsitzender der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei, zum Gegenangriff über. Er sei vom Präsidenten nicht konsultiert worden. Und auch von einer Staatsnotlage könne man nicht sprechen. Vielmehr habe dieser einen "Putsch gegen die Revolution und die Verfassung" unternommen, sagte Ghannouchi der Nachrichtenagentur Associated Press (AP).
Diskussion unter Juristen
Ähnlich sieht es der tunesische Jurist Sana Ben Achour. Der vergangene Sonntag sei ein "schwarzer Tag" in der Geschichte Tunesiens. Der Staatspräsident habe die Verfassung gegen sich selbst gewendet. "Was er über den Artikel 80 sagt, ist nichts anderes als seine eigene Interpretation", so Ben Achour im DW-Interview. Tunesien drohe eine Diktatur.
Der Rechtsprofessor Rabeh Kraifi vertritt die gegenteilige Auffassung. Er verweist gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters darauf, dass die tunesischen Verfassungsrichter noch nicht gewählt seien. "In dieser Situation hat ausschließlich der Präsident das Recht zur Auslegung der Verfassung", so Kraifi. Seine Entscheidung sei daher juristisch gedeckt.
Parteipolitische Rivalitäten
Der Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Präsidentenentscheidung zeigt vor allem, wie sehr die parteipolitische Krise der vergangenen Monate die Beteiligten unter Druck setzt - und insbesondere den Präsidenten, der längst nicht alle Tunesier von der Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen vermochte. Glauben wollten ihm heute vor allem seine Anhänger, die in den Tagen zuvor in mehreren Landesteilen gegen die Regierung protestiert und den Rücktritt der Regierung sowie die Auflösung des Parlaments gefordert hatten.
Tatsächlich sei die derzeitige Auseinandersetzung der vorläufige Höhepunkt eines seit längerem anhaltenden Machtkampfs zwischen dem Staatspräsidenten auf der einen und dem Premier und dem Parlamentsvorsitzenden auf der anderen Seite, sagt Johannes Kadura, Leiter der Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunesien. Dieser Streit habe zu einer politischen Blockade des Landes geführt, die das ökonomisch schwache Land sich kaum leisten könne.
Machtkämpfe an der Staatsspitze
Ihren Anfang nahmen die Spannungen zu Beginn des Jahres. Im Januar hatte Premier Mechichi im Rahmen einer Kabinettsumbildung Minister berufen wollen, die Präsident Saied partout nicht ernennen wollte. Die Kandidaten würden der Korruption verdächtigt und hätten aufgrund anderer Positionen starke Interessenskonflikte, hieß es aus dem Präsidentenamt. Darum könne Saied ihrer Berufung nicht zustimmen. Die tunesische Presse hatte damals aber gemutmaßt, Saied wolle mit seinem Einspruch nicht zuletzt auch seine eigene Macht erhalten. Er habe in der Kabinettsumbildung vor allem einen Versuch Mechichis gesehen, dem Staatspräsidenten nahe stehende Minister durch solche zu ersetzen, die eher dem Premier verbunden seien.
Wie sehr die Entscheidung des Präsidenten von parteipolitischen Machtkämpfen getrieben ist, deutet der Umstand an, dass an diesem Montag das Büro des Fernsehsenders Al-Jazeera in Tunis von schwerbewaffneten Polizisten geschlossen wurde, wie der Sender berichtet. Al-Jazeera hat seinen Firmensitz in Katar. Das Emirat gilt als einer der wichtigsten Unterstützer der Muslimbruderschaft, zu denen in lockerer Affiliation auch die Ennahda-Partei gehört. Auch ihr waren Presseberichten zufolge Hilfen aus Katar zugute gekommen.
Enttäuschte Hoffnungen
Der eigentliche Auslöser der derzeitigen Krise sei aber die seit langem anhaltende ökonomische Krise, sagt Johannes Kadura. "Seit der Revolution des Jahres 2011 haben sich die wirtschaftlichen Umstände für die Menschen nicht verbessert. So hat sich eine große Enttäuschung breitgemacht, die sich nun auch politisch äußert."
Tunesien ist gewissermaßen das Mutterland jener Aufstände, die im Jahr 2011 weite Teile der arabischen Welt erfassten. Die Proteste, die schließlich zur Absetzung des autokratisch regierenden Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali führten, sprangen rasch auch auf andere Länder über und führten dort zum Sturz der jeweiligen Präsidenten, so etwa in Libyen und Ägypten.
Allerdings mussten viele Tunesier feststellen, dass sich die Lebensumstände seit dem Umbruch nicht verbesserten. Im Gegenteil: Die wirtschaftliche Entwicklung weist immer weiter nach unten.
Die Staatsverschuldung liegt nach Berechnungen der deutschen Wirtschaftsinformationsgesellschaft Germany Trade and Invest (gtai) bei rund 84 Prozent - so hoch wie nie zuvor. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit mehr als 17 Prozent beziffert, Schätzungen gehen aber davon aus, dass sie viel höher liegt, insbesondere unter Jugendlichen. Zwar wurde mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ein neues Programm zur Strukturreform avisiert, dieses ist jedoch noch nicht abgeschlossen.
Corona: "Wie im Krieg"
Das alles hatte bereits vor der Corona-Pandemie bei Teilen der Bevölkerung zu wachsender Distanz gegenüber den staatlichen Institutionen geführt. Ein Teil der jungen Tunesier sucht Zuflucht bei extremistischen Gruppierungen, andere versuchen das Land in Richtung Europa oder anderer Weltregionen zu verlassen. Noch andere wenden sich teils gewalttätigen Protestformen zu. Verbunden sind die Tunesier aber durch die Empörung über die weit verbreitete Korruption und Schmuggelwirtschaft. Die durch sie verursachten Einnahmeausfälle betragen unterschiedlichen Schätzungen zufolge über 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Immer härter macht sich nun aber die Corona-Pandemie bemerkbar. Angaben der Johns Hopkins Universität zufolge waren bislang (Stand 27.07.2021) knapp 573.000 Menschen mit dem Virus infiziert, 18.800 sind verstorben. Vollständig geimpft sind gerade einmal gut sieben Prozent der Bevölkerung.
Die Situation sei "wie im Krieg", hatte Anfang Mai die Ärztin Omaima El Hassani von der Tunesischen Vereinigung junger Ärzte die Lage in zahlreichen Krankenhäusern des Landes beschrieben. "Tunesien kämpft heute mit der dritten Welle, und das mit sehr begrenzten Mitteln." Die Anzahl der Betten in ihrem Krankenhaus sei gering und die Aufnahmestationen für COVID-Patienten seien voll, berichtete sie aus dem Krankenhaus in Tunis, in dem sie Dienst tat. Sie und viele ihrer Kollegen warnten vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, die Lage sei überaus schwierig: "Die Patienten warten oft über 24 Stunden auf ein freies Bett."
"Wir bewegen uns in Richtung Diktatur"
Solche Entwicklungen trieben den Unmut der Bevölkerung voran, sagt Johannes Kadura von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wie die Krise weitergehe, sei derzeit schwer einschätzbar. "Kurzfristig kommt es darauf an, wie die beiden Gruppen ihre Anhänger mobilisieren werden. Im Extremfall könnte das Land durch den politischen Streit im Chaos versinken." Zwangsläufig sei diese Entwicklung aber nicht. Es komme sehr darauf an, wie sich die Anhänger der beiden Lager verhielten. Auch die Sicherheitskräfte spielten eine entscheidende Rolle, so Kadura weiter.
Deutliche Worte fand derweil der ehemalige tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki. Er bezeichnete die Entscheidung von Präsident Saied als "Putsch". Politische Krisen würden in entwickelten Ländern auf Grundlage des Gesetzes gelöst. "Wir haben einen enormen Schritt zurück getan", erklärte Marzouki auf Facebook. "Wir bewegen uns in Richtung Diktatur."