Tunesien stürzt in eine Verfassungskrise
26. Juli 2021Tunesiens Präsident Kais Saied hat Regierungschef Hichem Mechichi in einem überraschenden Schritt seines Amtes enthoben. Zugleich ordnete er an, das Parlament in Tunis müsse für 30 Tage seine Arbeit einstellen. Meldungen, Mechichi sei in Arrest genommen worden, bestätigten sich zunächst nicht.
Er selbst werde die Regierungsgeschäfte gemeinsam mit einem neuen Ministerpräsidenten übernehmen, kündigte Saied nach einem Krisentreffen mit Vertretern von Militär und Sicherheitsbehörden an. Zudem werde die Immunität sämtlicher Abgeordneter aufgehoben. Für den Fall gewaltsamen Widerstands drohte der Präsident mit einem Einsatz der Armee. Inzwischen entließ der Präsident auch Verteidigungsminister Ibrahim Bartaji und die amtierende Justizministerin Hasna Ben Slimane.
Um das Parlamentsgebäude zogen Soldaten auf. Vor dem kaltgestellten Parlament lieferten sich Gegner und Anhänger von Präsident Saied Straßenschlachten. Beide Seiten bewarfen sich mit Steinen, mehrere Menschen wurden verletzt. Außerdem wurden Soldaten an den Regierungssitz verlegt. Die Armeespitze nahm zunächst aber nicht öffentlich Stellung zu den Vorgängen.
"Gefährlichste Minuten"
"Wir erleben einen der empfindlichsten Momente in der tunesischen Geschichte. Es sind in der Tat die gefährlichsten Minuten", sagte Saied in einer Video-Ansprache. Zugleich versicherte der frühere Juraprofessor: "Wir arbeiten innerhalb des rechtlichen Rahmens." Artikel 80 der Verfassung räumt dem Staatschef das Recht ein, bei drohender "schwerer Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes" außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen.
Die islamisch-konservative Ennahda - die größte Partei in Tunesien und dominierende Kraft im Parlament - sprach hingegen von einem "Staatsstreich". Die Tunesier würden die Erfolge ihrer "Revolution" aber verteidigen, betonte Parlamentspräsident und Ennahda-Chef Rached Ghannouchi - offenbar in Bezug auf den "Arabischen Frühling" von 2011. Es handle sich um einen "Putsch" gegen die Verfassung, meinte Ghannouchi.
Mehrfache Putsch-Vorwürfe
Neben Ennahda erklärten zwei weitere wichtige Parteien - Herz von Tunesien und Karama - Saied habe gegen die Regierung geputscht. Das Ennahda-Mitglied Imed Ayadi zog einen Vergleich zwischen Saied und dem ägyptischen Präsidenten Abdel-Fattah al-Sisi, der 2013 an der Spitze des Militärs den der Muslim-Bruderschaft nahestehenden Präsidenten Mohamed Mursi von der Macht vertrieben hatte. "Saied ist der neue Sisi, der alle Macht auf sich vereinen will. (...) Wir werden dem Putsch gegen die Revolution die Stirn bieten."
Mehrere Zehntausend Menschen in Tunis und anderen Städten feierten auf den Straßen die Maßnahmen des Präsidenten. Am frühen Montag schloss er sich den Feiernden auf der zentralen Allee Habib Bourguiba in Tunis an, wie Bilder des staatlichen Fernsehens zeigten. Die Hauptverkehrsader in Tunis war Ausgangspunkt der demokratischen Revolution 2011.
Am Montag schloss die Polizei die Büros des katarischen Fernsehsenders al-Dschasira in Tunis. Beamte hätten sich Zugang verschafft "und haben uns aufgefordert, das Büro zu verlassen", sagte Büroleiter Lotfi Hajji der Nachrichtenagentur AFP. Erklärungen dafür hätten sie nicht geliefert. Katar gilt als Unterstützer der Ennahdha-Partei.
Die "Bewegung des 25. Juli"
Der Entscheidung des Staatschefs vorausgegangen waren am Sonntag teils gewalttätige Proteste gegen die Regierung. Die Demonstranten warfen Mechichi und der Ennahda vor allem Versagen im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor. Die Infektionszahlen waren zuletzt stark gestiegen, die Impfungen kamen nur langsam voran. Zu den Protesten am 64. Jahrestag der Unabhängigkeit Tunesiens hatte eine neue Gruppe namens "Bewegung des 25. Juli" aufgerufen.
Besorgnis in Berlin
Die Bundesregierung in Berlin äußerte sich besorgt über die Entwicklung in Tunesien. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes drückte die Sorge über die Eskalation der Gewalt in den vergangenen Tagen und Wochen sowie über die jüngste Zuspitzung der Lage aus. Es sei wichtig, "schnell zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren". Die Sprecherin mahnte zugleich die Wahrung der Freiheitsrechte an, die die wichtigste Errungenschaft der tunesischen Revolution vor rund zehn Jahren seien. Von einem "Putsch" wollte die Bundesregierung den Angaben zufolge nicht sprechen. Die Europäische Union rief in einer ersten Reaktion alle politischen Akteure zum Gewaltverzicht und Respekt vor der Verfassung auf.
Kritiker fürchten eine Rückkehr zu einer autoritären Herrschaft wie unter Zine El Abidine Ben Ali, der in dem nordafrikanischen Land nach rund 25 Jahre an der Macht war und der 2011 nach Massenprotesten gestürzt wurde. Tunesien hat seit den arabischen Aufständen als einziger Staat der Region den Übergang in die Demokratie geschafft. Es kämpft aber weiterhin mit einer Wirtschaftskrise, hoher Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Korruption.
ml/wa/ack/kle (dpa, rtr, afp)