Tschechien übernimmt den EU-Vorsitz
29. Juni 2022Für das "Gequassel mit Häppchen" wollte der tschechische Ex-Premier Andrej Babis kaum Geld ausgeben. Die EU-Ratspräsidentschaft, die der EU-Skeptiker 2021 vorzubereiten hatte, war ihm nicht viel wert. Nur ein Drittel des Budgets, das Tschechien für seine erste Ratspräsidentschaft im Jahr 2009 hinblätterte, sollte ausgegeben werden. Im November aber löste eine liberal-konservative Fünfparteien-Koalition um den neuen Premier Petr Fiala den populistischen Multimilliardär Babis ab. Nach der gewonnenen Parlamentswahl machte sich Fiala, ein gelernter Politologe, sofort daran, die EU-Ratspräsidentschaft ernsthafter vorzubereiten und als Chance für Tschechien auf der europäischen Bühne zu begreifen.
Praktikanten sollen es richten
Traditionell kann der Vorsitzende der Europäischen Union im halben Jahr seiner Präsidentschaft die Agenda maßgeblich beeinflussen und Werbung für sein eigenes Land machen, auch wenn er formal keine Machtbefugnisse hat. Petr Fiala erhöhte das Budget für die zusätzlichen Ausgaben während der Ratspräsidentschaft ein wenig. Doch das reichte nur aus, um die mit 16 Prozent galoppierende Inflation in Tschechien auszugleichen. Deshalb ist die tschechische Vertretung bei der Europäischen Union darauf angewiesen, preiswert zu arbeiten und sich auf Praktikanten und studentische Hilfskräfte zu stützen, um rund 200 Tagungen und Veranstaltungen zu organisieren. Die Praktikanten, die hauptsächlich durch das EU-Stipendienprogramm Erasmus finanziert werden, haben sich im April bereits darüber beschwert, dass ihre Lebenshaltungskosten in Brüssel von der Regierung in Prag nicht ersetzt werden.
"Reifeprüfung für Tschechien"
Trotz der schlechten finanziellen Ausstattung soll die zweite tschechische Ratspräsidentschaft ein Erfolg werden, anders als bei der ersten 2009. Während dieser ersten Präsidentschaft wurde der Premierminister Mirek Topolanek durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Die EU-Agenda versank im Chaos. Damals beschwerten sich Diplomaten der alten EU-Staaten, die tschechische Geschäftsführung sei "peinlich" gewesen.
Petr Fiala ist sich darüber im Klaren, dass er und seine Minister genau beobachtet werden. "Am 1. Juli übernehmen wir zum zweiten Mal die Ratspräsidentschaft. Mit leichter Übertreibung lässt sich sagen, dass sie für uns eine Reifeprüfung ist", sagte der Regierungschef auf seiner Pressekonferenz zur Vorstellung des Präsidentschaftsprogramms Mitte Juni.
Ukraine und Indopazifik
Der tschechische Außenminister Jan Lipavsky von der Piratenpartei macht sich keine Illusionen. Der russische Krieg gegen die Ukraine wird - genauso wie beim Vorgänger Frankreich - die Ratspräsidentschaft der tschechischen Republik bestimmen. Für eigene Akzente wird wenig Raum bleiben. Es gehe vor allem darum, die Ukraine zu unterstützen, die Einheit der EU zu wahren, Sanktionen durchzusetzen und die wirtschaftlichen Folgen des Krieges zu schultern. Trotzdem wolle er sich auch für andere Weltgegenden, wie etwa den indopazifischen Raum einsetzen, kündigte Lipavsky an. Er wolle sich aktiv an EU-Verhandlungen für Handelsabkommen mit Australien, Neuseeland und Indonesien beteiligen, so Jan Lipavsky in Prag.
Der Außenminister will in der EU auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro und Albanien in Gang bringen. Er hoffe außerdem, dass Georgien bis zum Ende des Jahres die Bedingungen erfülle, um Beitrittskandidat zu werden, wie zuvor die Ukraine und Moldau. "Georgien hat die einmalige Chance, seine Reformen zu beschleunigen, das Momentum zu nutzen und Teil der Erweiterung zu werden", sagte Jan Lipavsky beim letzten Außenministertreffen der EU in Luxemburg.
Eng verbandelt mit Polen
"Nach der russischen Aggression in der Ukraine ist die Welt nicht mehr dieselbe. Daran, wie sie aussehen soll, wollen auch wir uns aktiv beteiligen. Denn wir haben die einzigartige Gelegenheit, die Zukunft Europas zu schreiben", freut sich der tschechische Premierminister Petr Fiala. Seine Regierung tritt für einen möglichst harten Kurs gegen den Kreml ein. Die eigene tschechische Erfahrung mit der sowjetischen Besatzung hätte ihn das gelehrt, so Fiala. Innerhalb der EU strebt der künftige Ratsvorsitzende einen engen Schulterschluss mit den Nationalkonservativen in der polnischen PiS-Regierung an, wenn es zum Beispiel um die Abschottung der Grenzen gegen Asylbewerber geht, die nicht aus der Ukraine kommen. Trotzdem muss Tschechien darauf achten, dass Polen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit endlich den Vorgaben aus der EU folgt. "Eine Gratwanderung", meinen dazu Diplomaten in Brüssel.
Allerdings hat Petr Fiala deutlich gemacht, dass er von den Alleingängen des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban nicht viel hält. Orban hatte wochenlang Sanktionen gegen Russland aufgehalten und dann abgeschwächt. Das alte "Visegrad"-Bündnis, in dem Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn ihre Politik in der EU verabredet haben, gibt es so nicht mehr.
Motto: Europa als Aufgabe
In einer Analyse des tschechischen Internetportals SeznamZprávy hieß es, die tschechische Regierung dürfe trotz aller Aufmerksamkeit für die EU-Ratspräsidentschaft, die innenpolitischen Probleme des Elf-Millionen-Volkes nicht vernachlässigen. Die hohen Preise und Versorgungsprobleme könnten laut Gewerkschaften zu einem "heißen Herbst" der Proteste führen. Petr Fiala müsse aufpassen, dass es ihm nicht so ergehe wie seinem Vorgänger 2009 und er im Parlament seine Mehrheit mitten in der Ratspräsidentschaft verliere.
Eröffnet wird die Ratspräsidentschaft am 8. Juli mit einem festlichen Welturaufführungs-Konzert der tschechischen Philharmoniker im Prager Rudolfinum. Das Motto der Ratspräsidentschaft lautet "Europa als Aufgabe" und ist eine Anleihe beim ehemaligen Präsidenten, dem Schriftsteller und Bürgerrechtler Vaclav Havel, der bereits 1996, acht Jahre vor dem tschechischen EU-Beitritt, eine Rede zum glücklich vereinten Europa hielt, als er den Karlspreis in Aachen entgegennahm.