Tschechien: Atomkraft im Fernwärmenetz
30. März 2021Die Tschechische Republik verfügt, ebenso wie die ostdeutschen Bundesländer, in nahezu jeder größeren Stadt über ein System von Heizkraftwerken und Zentralheizungen. Sie werden größtenteils mit Kohle betrieben. Doch mit dem schrittweisen Kohleausstieg in der Europäischen Union entsteht ein ernstes Problem - und zwar, wie man in Wohngebieten mit Zentralheizungen die Wärmeversorgung für die Bewohner langfristig sicherstellt. Technologisch ist der Übergang zu Erdgas ohne Weiteres machbar - aber er kann zu einer erheblichen Verteuerung der Wärmeversorgung führen.
Eine revolutionäre Lösung kommt nun von einem Wissenschaftlerteam der Tschechischen Technischen Universität (ČVUT) und der Westböhmischen Universität in Pilsen. Das Team entwickelte eine kleine Anlage für verbrauchte Kernbrennstäbe aus Atomkraftwerken, in der die sogenannte Nachzerfallswärme der Brennstäbe genutzt wird, um Wasser zu erwärmen. Künftig soll so eine preisgünstige Alternative für Kohle und Gas entstehen. "Teplator" nennen die Wissenschaftler ihre Anlage, zu deutsch etwa: Wärmeerzeuger. Patentschutz erhielten sie für das Konzept und die Konstruktion bereits.
Laut dem Projektleiter Radek Škoda vom Tschechischen Institut für Informatik, Robotik und Kybernetik der Tschechischen Technischen Universität ist das Projekt vor allem deshalb außergewöhnlich, weil es abgebrannte Brennelemente zur Wärmeerzeugung nutzen kann. Die Elemente müssten sonst aufwendig über einen sehr langen Zeitraum gekühlt und gelagert werden - es sind Folgekosten der Kernenergieerzeugung.
So groß wie ein Forschungsreaktor
"Allein aus den heute in der Tschechischen Republik verfügbaren Reserven abgebrannter Brennelemente ist es möglich, dreißig Jahre lang alle großen tschechischen Städte mit Wärme zu versorgen", sagt Škoda gegenüber der DW. "Die Art der abgebrannten Brennelemente, für die der Teplator ausgelegt ist, wird nicht nur in tschechischen Kernkraftwerken verwendet, sondern beispielsweise auch im geschlossenen ostdeutschen Kernkraftwerk Greifswald. Der dort abgebrannte Brennstoff könnte auch für unseren Teplator verwendet werden und es wäre möglich, Leipzig oder Halle damit zu heizen", sagt Škoda. Er schätzt, dass der Teplator Wärme zu etwa der Hälfte der Kosten von Gasheizkraftwerken erzeugen kann.
Laut Škoda handelt es sich beim Teplator um eine Nuklearanlage von ähnlicher Größe wie Forschungsreaktoren, die derzeit auch in Ballungsräumen großer europäischer Städte wie Wien, Prag oder München betrieben werden. Dabei sei der Teplator jedoch technologisch viel einfacher konstruiert als die weltweit entwickelten Mini-Kernreaktoren, sagt Škoda. "Das Hauptproblem bei diesen kleinen Kernreaktoren besteht darin, dass sie Strom erzeugen, so wie das auch große Atomkraftwerke machen. Der Strom aus den kleinen Reaktoren ist jedoch sehr teuer", erklärt der tschechische Wissenschaftler. Ein Teplator, der "nur" Wärme erzeuge, sei viel einfacher konzipiert, so Škoda.
Großes Interesse in Tschechien
Die von Škodas Team entwickelte Anlage arbeitet bei normalem atmosphärischem Druck und hat in der einfachsten Ausführung eine Temperatur von hundert Grad. Daher bedarf es weitaus weniger komplizierter technischer Lösungen und weniger anspruchsvoller Materialien. "Unser Teplator ist deutlich kostengünstiger als herkömmliche kleine Kernreaktoren", merkt Škoda an.
Durch die zunehmende Abkehr der Europäischen Union von fossilen Brennstoffen hat das Interesse an dem Projekt erheblich zugenommen. Fast alle großen tschechischen Energieunternehmen mit einer Fernwärmesparte zeigten sich offen für eine Umsetzung, sagt Škoda. "Wir sind bereits in sehr konkreten Verhandlungen", fügt er hinzu. Auch außerthalb Tschechiens bestehe Interesse. "Wir haben beispielsweise Gespräche in Helsinki geführt. Dort wird überlegt, das großflächige Zentralheizungssystem der Stadt umzustellen", sagt Škoda.
Kaum Vorbehalte gegen Kernenergie
Der Teplator wartet nun auf ein Genehmigungsverfahren als kerntechnische Anlage. Gleichzeitig wird in Tschechien ein Standort gesucht, an dem die erste derartige Anlage gebaut werden kann. "Wir sind überrascht von der positiven Reaktion. Dies liegt sicher auch daran, dass die Akzeptanz der Kernenergie in der Tschechischen Republik relativ hoch ist ", glaubt Škoda.
Tatsächlich gibt es in Tschechien, anders als etwa Deutschland oder Österreich, so gut wie keine Vorbehalte gegen die Nutzung von Kernenergie. Alle tschechischen Parlamentsparteien befürworten Kernenergie, und selbst die Piraten, die mit den Grünen im Europäischen Parlament in einer gemeinsamen Fraktion sind, plädieren für den Bau weiterer Atomkraftwerke. Lediglich die tschechischen Grünen sprechen sich gegen Kernenergie aus. Sie sind jedoch nicht im Parlament vertreten und liegen in Umfragen konstant bei nur etwa zwei bis drei Prozent.
"Weniger abhängig von russischem Gas"
In Tschechien könnte die erste Anlage bereits 2028 stehen, glaubt Škoda. Problematischer dürfte es in den zahlreichen europäischen Ländern sein, die der Kernenergie skeptisch gegenüberstehen.
Der tschechische Europaabgeordnete Evžen Tošenovský von der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) sieht das Projekt Teplator jedoch als zukunftsweisend und möchte dafür auch im Europaparlament werben. "Ich denke, es geht um eine sehr interessante Lösung", sagt Tošenovský der DW. "Der Vorteil nuklearer Ressourcen besteht darin, dass sie im Gegenteil zu Gas emissionsfrei sind. Darüber hinaus erhöht Gas unsere Abhängigkeit von Russland. Dieses Argument können die Gegner der Kernenergie in der EU nicht einfach so wegwischen", so Tošenovský. "Zudem ist eine Energiewirtschaft, die ausschließlich auf erneuerbaren Ressourcen basiert, ebenfalls ein großes Risiko."