EU tastet sich beim Brexit vor
27. Juni 2016Der ältere Herr im dunkelblauen Anzug mit dem ergrauten Haarschopf machte einen sehr seriösen Eindruck. Er forderte die streitenden Parteien auf, jetzt nicht den Kopf zu verlieren oder an Rache zu denken. Wie ein guter Berater für Ehescheidungen versuchte der Besucher aus Übersee ein bisschen Ruhe in die hektischer werdende Brexit-Debatte zu bringen. John Kerry, der amerikanische Außenminister, besuchte als eine Art Scheidungsberater an diesem Montag sowohl die EU-Kommission in Brüssel als auch die britische Regierung in London. Seine Botschaft bei beiden Beratungsterminen: "Wir wollen eine starke EU, und wir wollen die speziellen Beziehungen zum Vereinigten Königreich aufrecht erhalten."
John Kerry, der die beiden Beratungstermine in seinen ohnehin vollen Terminkalender als Notfall eingeschoben hatte, appellierte an beide Seiten, nun nicht alle Gemeinsamkeiten in unnötiger Eile über Bord zu werfen. "Die EU und Großbritannien teilen immer noch die gleichen Werte und auch Interessen", sagte Kerry. Daran ändere auch der bevorstehende Brexit nichts. Kerry wiederholte die Drohung von US-Präsident Barack Obama im Brexit-Wahlkampf nicht. Obama hatte im April in London gesagt, die USA wollten ein Freihandelsabkommen mit der EU zuerst abschließen. Großbritannien müsse sich hinten anstellen.
Brexit-Gespräche erst im Herbst
In Brüssel gehen EU-Kommission und der Rat der Mitgliedsstaaten inzwischen davon aus, dass irgendeine noch zu bestimmende britische Regierung erst im Herbst den roten Knopf drücken wird, um Verhandlungen über einen Austritt aufzunehmen. Sprecher der Kommission und Unterhändler des Rates wiesen das britische Ansinnen zurück, schon vor einer offiziellen Anmeldung des Austrittswillens nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages, informelle Verhandlungen über die Modalitäten aufzunehmen. "Die Brexit-Befürworter haben offenbar nicht erwartet, dass sie gewinnen werden", sagte die Vorsitzende des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament, Danuta Hübner, in Brüssel. "Sie haben keinen Plan und sind nicht vorbereitet." Den Wunsch, jetzt irgendwelche Sonderregelungen für Großbritannien auszuhandeln, etwa freien Zugang zum Binnenmarkt ohne Beitragszahlungen, lehnte sie ab. Die EU-Kommission bestand auf dem Beginn der Verhandlungen so schnell wie möglich, auch wenn der Prozess schmerzhaft sei.
Junckers Rücktritt gefordert und zurückgewiesen
Einige osteuropäische Mitgliedsstaaten sehen das anders und kritisieren EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für seine entschiedene Haltung. Der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek forderte gar den Rücktritt von Juncker. Der Kommissionspräsident sei "nicht mehr der richtige Mann für den Job", so Zaoralek im tschechischen Fernsehen. Irgendjemand in Brüssel müsse Verantwortung für das negative Referendum übernehmen. Der Sprecher von Jean-Claude Juncker wies das ein wenig entnervt zurück. Der Präsident werde nicht zurücktreten. "Wir haben das Referendum schließlich nicht angesetzt. Wenn jemand Konsequenzen ziehen muss, dann diejenigen, die das Referendum verantworten."
In Brüssel hörte man vor dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs, der am Dienstag beginnt, dass eventuell ein Antrag gestellt werden könnte, Juncker abzulösen. Polen will sich beim Gipfel Zeit zum Nachdenken ausbitten, während Italien für sofortige Verhandlungen plädiert, um unsichere Märkte zu beruhigen. EU-Diplomaten sehen einen "interessanten Gipfel" voraus.
Englisch bald nicht mehr Amtssprache?
Danuta Hübner, Expertin für Vertrags- und Verfassungsfragen im Europäischen Parlament, hat eine Reihe von Feldern ausgemacht, auf denen harte Verhandlungen mit den Briten bevorstehen. Aber auch die EU müsse ihre Regelungen anpassen. Eine eher komische Anekdote sei, so Hübner, die Zukunft der englischen Sprache. "Wenn Großbritannien austritt, ist Englisch keine offizielle Amtssprache der EU mehr", sagte Hübner zum Erstaunen vieler Journalisten im Parlament. "Irland und Malta haben ihre jeweiligen Landessprachen, Irisch und Maltesisch, als offizielle Sprachen angemeldet." Kein anderes Land hat Englisch als Amtssprache reklamiert. Pro Land der EU ist nur eine Sprache zulässig. Dafür lasse sich aber sicherlich irgendeine Lösung finden, beruhigte Hübner, schließlich sei Englisch ja doch die hauptsächliche Arbeitssprache in den Brüsseler Gremien geworden.
Es gehe vor allem darum, die Interessen der zwei Millionen EU-Bürger zu schützen, die derzeit im Vereinigten Königreich lebten, und auch der Briten, die in Brüssel und dem Rest der EU arbeiten. Die Europaabgeordnete und ehemalige polnische EU-Kommissarin Danuta Hübner ließ mehrfach durchblicken, dass beide Seite der anstehenden Scheidung noch keine rechte Vorstellung hätten, was alles verhandelt werden müsse und was man eigentlich durchsetzen wolle. Die Rechtsexpertin wies daraufhin, dass man Großbritannien notfalls auch zwingen könne, den Austrittsprozess nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags zu beginnen. Nach Artikel 4 Absatz 3 ist jeder Mitgliedsstaat verpflichtet, seine Pflichten aus dem Vertrag kooperativ so umzusetzen, dass andere Mitglieder nicht geschädigt oder beeinträchtigt werden. "Die Briten haben nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch eine rechtliche Pflicht, den Prozess jetzt zu beginnen", folgerte Danuta Hübner.
Scheidungsklage vor dem EuGH?
EU-Kommission, Rat und auch das Parlament gegen davon aus, dass das Scheidungsprozedere zwei Stufen haben wird. Zuerst wird der Austrittsvertrag besiegelt, der von allen nationalen Parlamenten in der EU ratifiziert werden muss. Erst danach beginnen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zum Drittland Großbritannien, um freien Handel und Reiseverkehr zu regeln. Chris Grayling, einer der Pro-Brexit-Minister im britischen Kabinett, sieht das anders. Er will informelle Verhandlungen über freien Handel schon vor dem eigentlichen Brexit. Auch die Einwanderung aus der EU sollte vor dem eigentlichen Austritt schon fallen.
Im schlimmsten Falle sehen sich die EU und den Noch-Mitgliedsland Großbritannien wie zwei echte Scheidungsparteien vor Gericht. Vielleicht kann man die Anrufung des Artikels 50 vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen. Rosenkrieg in Luxemburg? EU-Diplomaten gehen nicht davon aus, dass es soweit kommt.