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Brüssel drängt, London bremst

27. Juni 2016

Ganz Europa fragt sich derzeit: Wann treten die Briten denn nun aus? Wenn es nach einigen EU-Politikern ginge: so bald wie möglich. Doch die britischen Entscheidungsträger sehen keinen Grund zur Eile.

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Großbritannien Exit vom Brexit (Foto: © Imago/MiS)
Bild: Imago/MiS

"Die einzige Veränderung - und die wird nicht mit großer Eile kommen - ist, dass das Vereinigte Königreich sich aus dem außergewöhnlichen und undurchschaubaren System der Gesetzgebung der EU herauszieht", hat Boris Johnson in seiner Kolumne für den "Daily Telegraph" geschrieben. Damit begegnete der Brexit-Wortführer und mögliche Nachfolger von Premierminister David Cameron gleich mehreren Bedenken aus der eigenen Bevölkerung - nach einem Austritt Schottlands, dem Verlust von Arbeitsplätzen und der grundsätzlichen Angst vor schnellem Wandel.

Für innerhalb der EU beschäftigte Briten und für in Großbritannien lebende Europäer werde sich kaum etwas ändern. Johnson prophezeite: "Die Briten werden weiter in die EU zum Arbeiten gehen können; zum Leben, zum Reisen, zum Studieren, um Häuser zu kaufen und sich niederzulassen." Auch der freie Zugang zum europäischen Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen würde nicht eingeschränkt. Auch würde es weiter eine intensive Zusammenarbeit mit Europa in den Künsten, den Wissenschaften und beim Umweltschutz geben.

"Klima der Sorge" übertrieben?

Obwohl die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon angekündigt hatte, ein erneutes Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands anzustreben, meint Johnson: "Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich erkenne keine echte Lust auf ein weiteres in Kürze." Während 52 Prozent der Briten für den EU-Austritt gestimmt hatten, votierten 62 Prozent der Schotten für den Verbleib und sehen sich nun gegen ihren Willen aus der EU getrieben.

Zugleich rief Johnson dazu auf, "Brücken zu bauen" zu denjenigen, die für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten. Es sei klar, dass einige "Bestürzung, Verlust und Verwirrung" empfänden. Das "Klima der Sorge" sei aber auf "völlig übertriebene" Warnungen vor negativen Konsequenzen des Brexit zurückzuführen.

Britischer Finanzminister George Osborne zu EU-Referendum (Foto: picture-alliance/empics)
Viele Fragen bleiben offen, nach dem der britische Außenminister George Osborne sich erstmals zu Wort gemeldet hatteBild: picture-alliance/empics/S. Rousseau

Cameron: Regierung soll Austritt vorbereiten

Auch Johnsons Kontrahent David Cameron meldete sich zu Wort. "Die Regierung muss sich nun darauf konzentrieren, alles zu tun, um die Verhandlungen zum britischen EU-Austritt vorzubereiten", erklärte seine Sprecherin gegenüber Journalisten. David Cameron hatte allerdings bei seinem Rücktritt erklärt, den Austrittsprozess seinem Nachfolger zu überlassen. Im Hinblick darauf stellte die Sprecherin klar: "Es geht um das Vordenken, nicht darum, Entscheidungen zu treffen." Das sei Aufgabe des künftigen Premierministers.

Wann genau dieser antreten werde, haben die Tories nun angekündigt: Anfang September wollen sie den Nachfolger David Camerons wählen. Das Verfahren zur Wahl eines neuen Parteichefs sollte nächste Woche beginnen, erklärte der konservative Abgeordneter Graham Brady. Cameron selbst hatte seinen Rücktritt erst für Oktober angekündigt.

Zeit für Entscheidungen

Zuvor hatte der britische Finanzminister George Osborne Forderungen nach raschen Austrittsverhandlungen Großbritanniens mit der EU eine Absage erteilt. Formelle Verhandlungen sollten nicht beginnen, bevor "eine klare Sicht davon da ist, welches neue Abkommen wir mit unseren europäischen Partnern suchen", erklärte der Tory-Politiker. Cameron habe "dem Land Zeit gegeben, darüber zu entscheiden, was diese Beziehung sein sollte, indem er die Entscheidung zur Auslösung des Prozesses nach Artikel 50 verzögert hat, bis ein neuer Premierminister im Herbst im Amt ist", führte der Finanzminister aus. Der Politiker hatte für den Verbleib in der EU geworben und die Briten vor allem vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexit gewarnt.

Osborne stellte in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme nach dem Brexit-Votum klar: "Nur das Vereinigte Königreich kann Artikel 50 auslösen". Damit bezieht er sich auf den entsprechenden Artikel der Europäischen Verträge, nach dem der Austritt aus der Gemeinschaft nur von einem Mitgliedsstaat selbst beantragt werden kann. Dieser Schritt könnte sich im Falle Großbritanniens bis zu Camerons Rücktritt im Herbst hinauszögern.

Kanzlerin Merkel: "Keine Hängepartie"

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am Rande ihres Treffens mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Wladimir Groisman: "Es muss klar sein, dass es keine informellen Verhandlungen geben kann. bevor nicht die Absicht förmlich erklärt wurde, aus der EU auszuscheiden. Wir können nicht mit informellen Gesprächen anfangen, ohne die förmliche Mitteilung aus Großbritannien zu haben." Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, hatte zuvor mitgeteilt, Berlin respektiere das EU-Verfahren. Zugleich betonte er: "Die Bundesregierung will keine Hängepartie."

Treffen der Außenminister der Visegrad Gruppe in Prag (Foto: Getty Images/AFP)
In Tschechien beruhigt Steinmeier die Gemüter OsteuropasBild: Getty Images/AFP/M. Cizek

Die Entscheidungsträger der EU schwanken nach dem Brexit-Wochenende zwischen Schock, Verärgerung und vorsichtiger Zukunftsplanung. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, warnte die Briten davor, den Austritt aus der EU zu lange hinauszuzögern. "Wir erwarten, dass die britische Regierung jetzt liefert", sagte der SPD-Politiker den "Ruhr Nachrichten". Beim EU-Gipfel werde er klar stellen, "dass wir keinerlei Verständnis für die taktischen Spielchen der konservativen Torys haben, mit denen sie Zeit gewinnen wollen, um ihren innerparteilichen Machtkampf auszufechten".

Bloß keine ewigen Diskussionen

Auch Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi drängte auf den raschen Austritt Großbritanniens aus der EU. "Europa kann alles tun, außer eine einjährige Diskussion über das Verfahren zu beginnen", betonte Renzi. "Wenn sich alles auf eine Diskussion über das Verfahren reduziert, verlieren wir aus dem Blick, was geschehen ist." Der Italiener kritisierte, es fehle "das Bewusstsein für den Ernst der Situation". Am Abend trifft der italienische Regierungschef in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande zusammen.

Vor dem EU-Gipfel am Dienstag finden am heutigen Montag noch eine ganze Reihe weiterer Krisensitzungen statt. In Tschechien kamen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault mit ihren Kollegen aus den mittelosteuropäischen EU-Staaten zusammen, um über deren Sorgen vor den Brexit-Folgen zu beraten. "Wir stimmen überein, dass die Debatte über die Zukunft der EU auf einer Plattform stattfinden muss, die alle 27 EU-Staaten umfasst", sagte der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek nach dem Treffen in Prag.

Donald Tusk bei Francois Hollande in Paris (Foto: Getty Images/AFP)
Jeder trifft sich nach dem Brexit-Votum mit jedem: Hier Ratspräsident Donals Tusk mit Francois HollandeBild: Getty Images/AFP/S. De Sakutin

EU "lebensnotwendig" für Tschechien

Am Samstag hatten sich die sechs Gründungsstaaten des EU-Vorläufers EWG in Berlin getroffen, um über den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union zu beraten. Einige Länder fühlten sich davon übergangen. Zaoralek nannte die EU "lebensnotwendig" für sein Land. "Die falsche Antwort wäre eine übereilte Integration, die falsche Antwort wäre aber auch, so zu tun, als ob nichts passiert ist", sagte er. An dem Treffen nahmen auch die Außenminister Polens, Ungarns und der Slowakei teil. Auch sie riefen die britische Regierung zu baldigen Austrittsverhandlungen auf.

Am Nachmittag berät darüber hinaus die EU-Kommission über das Votum der Briten. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini trifft US-Außenminister John Kerry, der am selben Tag in London auch mit seinem britischen Kollegen Philip Hammond sprechen will. EU-Ratspräsident Donald Tusk traf in Paris zunächst mit Präsident François Hollande zusammen und will am Mittag in Berlin mit Kanzlerin Merkel beraten.

nin/rb (dpa, afp, rtr)