Traurige Gewissheiten für Uiguren im Exil
26. Februar 2023Im vergangenen Mai tauchten Dateien und Fotos aus der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas auf, die aus offiziellen gehackten Datenbanken stammten. Sie warfen ein neues Licht auf die Menschenrechtsverletzungen Pekings an der uigurischen Minderheit in der Region. Die Bilder zeigen Inhaftierte in Internierungslagern, darunter auch Teenager und alte Frauen. Sie bieten erschreckende Einblicke in die brutale Verfolgung der Uiguren und anderer ethnischer Minderheiten durch die chinesische Regierung.
Eine anonyme Quelle hatte Polizeicomputer gehackt und das Material Adrian Zenz zugespielt, einem Anthropologen und Senior Fellow für Chinastudien an der Victims of Communism Memorial Foundation, einem Think-Tank in den USA. Am 10. Februar 2023 legten er und sein Team das wahre Ausmaß des Datenlecks offen, das Informationen zu etwa 830.000 Personen sowie Tausende von Bildern umfasst. Neben diesen neuen Enthüllungen stellte Zenz ein neues Recherche-Tool vor, das es Uiguren im Exil erlaubt, Familienmitglieder anhand ihrer chinesischen Identifikationsnummer oder ihres Namens in chinesischer Schrift zu suchen, um Informationen über sie zu erhalten.
"Die chinesische Regierung hat sich geweigert, diese Informationen zu veröffentlichen. Nun, da sie uns zugespielt wurde, geben wir den Uiguren die Möglichkeit, sie so zu durchsuchen, als würden sie einen Polizeicomputer in Xinjiang durchsuchen", erklärte Zenz der DW. "Es mag nicht perfekt sein, aber es bietet Einblick in das Dateisystem der Polizei von Xinjiang."
Das bislang größte Datenleck in China
Nie zuvor ist eine so große Menge Daten durchgesickert, betont Zenz. Das Datenleck bietet einen sehr detaillierten Blick auf die systematischen Masseninternierungen und andere Gräueltaten, die seit 2016 in Xinjiang stattfinden. Der Großteil der Daten stammt aus dem Kreis Shufu im Bezirk Kaschgar und dem Kreis Tekes im Bezirk Ili während der Jahre 2016 bis 2018.
Nach Meinung von Zenz decken die Daten fast die gesamte Bevölkerung an diesen beiden Orten ab und zeigen, dass eine große Zahl von Menschen dort in irgendeiner Art inhaftiert sind. "Dieses Material belegt, dass die Masseninternierungen tatsächlich durchgeführt wurden", sagt Zenz und fügt hinzu, dass die Daten einen Überblick über das Ausmaß der Internierungen gäben. "Sie sind aussagekräftiger als alles, was wir vorher hatten."
Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wurden etwa eine Million Uiguren und andere ethnische Minderheiten aus Xinjiang in zahllosen Internierungslagern in der gesamten Provinz festgehalten. Vergangenen August veröffentlichte das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen einen Bericht zu Xinjiang, demzufolge die massive Internierung von Uiguren und anderen Minderheiten durch die chinesische Regierung dort als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" eingestuft werden kann.
Das chinesische Außenministerium wies den Bericht allerdings zurück und bezeichnete ihn als Sammelsurium von Desinformationen und als politisches Instrument, das den USA und anderen westlichen Staaten lediglich dazu diene, China mithilfe dieses Themas zu brandmarken.
"Es zeigt, wie brutal die chinesische Regierung ist"
Einige der im Ausland lebenden Uiguren nutzen das Recherche-Tool, um mehr über das Schicksal ihrer Familienmitglieder zu erfahren, beispielsweise wann sie verhaftet wurden, in welchem Internierungslager sie sich befinden und welche Haftstrafen sie verbüßen müssen. "Neunundzwanzig meiner Familienmitglieder tauchen in den Dateien auf. Schweren Herzens habe ich die Daten durchkämmt, denn ich bin überzeugt, dass wir der Welt klar machen müssen, was wirklich in Xinjiang passiert", berichtet Mamatjan Juma, stellvertretender Leiter des uigurischen Dienstes bei Radio Free Asia.
"Ich frage mich, ob das was ich tue, richtig oder falsch ist. Wenn ich sehe, dass Familienmitglieder wegen meiner Arbeit verfolgt werden, fühle ich mich schuldig. Es zeigt aber auch, wie brutal die chinesische Regierung ist. Sie bestrafen willkürlich Menschen aus dem weiteren Umfeld. Für mich ist es sehr schwierig, schmerzhaft und belastend, damit zu leben."
Juma stellte bei seiner Suche fest, dass einer seiner Brüder zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde. Zwei weitere Brüder wurden ebenfalls verhaftet und eine Zeitlang in Lagern festgehalten. Am härtesten traf ihn der Tod seines Vaters, der aufgrund mehrfacher Komplikationen gestorben sein soll. "Als ich 2017 zuhause anrief, erzählte mir meine Mutter, dass mein Vater zehn Tage zuvor gestorben war", sagt Juma. "Später erfuhr ich, dass er starb, während zwei meiner Brüder interniert waren. Wo mein jüngerer Bruder damals war, wusste ich nicht. Mich quält, dass wir nicht bei meinem Vater waren, als er starb."
"Ich habe 40 Jahre meines Lebens verloren"
Für Juma war es eine gewisse Erleichterung, mehr über das Schicksal seiner Familie zu erfahren. Abduweli Ayup, ein bekannter uigurischer Sprachwissenschaftler und Aktivist, der in Norwegen lebt, empfindet die Informationen aus seiner Heimat dagegen als belastend. "Als erstes gab ich den Namen meiner Nichte ein. Sie wurde laut den Dateien im September 2018 als flüchtig eingestuft. Es wurde außerdem deutlich, dass sie verhaftet werden würde, wenn sie nach Xinjiang zurückkehrt", erklärt er im Gespräch mit der DW.
Ayup musste feststellen, dass seine Nichte Mihray Erkin im Jahr 2021 in Haft starb, zehn Monate nach ihrer Festnahme durch die Polizei. Seine jüngere Schwester Sajida Ayup, die an der weiterführenden Schule Geografie unterrichtet, wurde angeklagt, eine "doppelgesichtige" Beamtin zu sein. "Arbeitet jemand für die chinesische Regierung, hält jedoch an seinem Glauben oder seiner Kultur fest, wird er beschuldigt, doppelgesichtig zu sein", erläutert Ayup.
Er fand weiter heraus, dass sein Bruder zu 14 Jahren Haft verurteilt worden war. "Ich suchte auch nach Informationen über meine Cousins, meine Freunde, meine Nachbarn. Sie alle wurden verhaftet", fügt er hinzu. "Im Grunde habe ich 40 Jahre meines Lebens in Kaschgar verloren. Das sind Menschen, die ich kenne, mit denen ich gearbeitet habe, mit denen ich befreundet war. Ohne die Menschen, die ich liebe, ist meine Heimat leer."
Wenn 12-jährige Uiguren als "außerordentlich verdächtig" eingestuft werden
Als Marhaba Yakub Salay zum ersten Mal von dem neuen Recherche-Tool hörte, wollte sie eigentlich nur zusätzliche Details über ihre Schwester Mayila Yakufu erfahren. Sie war 2020 wegen "Terrorismusfinanzierung" zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Obwohl Salays Familie nachweisen konnte, dass Yakufu ihnen Geld überwiesen hatte, damit sie ein Haus in Australien kaufen konnten, befindet sie sich weiterhin in Haft.
"Ich suchte nach der Identifikationsnummer meiner Schwester, ohne Ergebnis", berichtet Salay. "Dann suchte ich nach Informationen über andere Familienmitglieder und fand Angaben zu meiner Nichte und meinem Neffen. Ich war schockiert. Die chinesische Regierung hat sie nicht verhaftet, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, was ihnen zustoßen könnte."
Salay erzählt, dass ihr Neffe, der zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt war, als Person der "Kategorie 2" eingestuft wurde, als "außerordentlich verdächtiger Komplize" in Fällen, die die öffentliche Sicherheit und den Terrorismus betreffen. Die Dateien zu ihrer Nichte und ihrem Neffen zeigen auch, dass sie möglicherweise in eines von 26 als verdächtig eingestuften Ländern, einschließlich Ägypten und Afghanistan, gereist seien.
Salay macht jedoch deutlich, dass die beiden China lediglich einmal verlassen hätten - als sie gemeinsam mit Salays Schwester nach Malaysia reisten, um Salay und die restliche Familie zu besuchen. "Laut der Liste sind sie in all diese kritischen Länder gereist, aber das stimmt überhaupt nicht", betont sie.
Bald wird Salays Neffe 18. Sie macht sich Sorgen, dass die Behörden ihn irgendwann verhaften könnten. "Ich bin mir nicht sicher, was die chinesischen Behörden mit ihm machen werden", sagt sie zur DW. "Ich weiß nicht, wie es meiner Schwester geht, nur dass sie noch im Gefängnis ist. Wenn meiner Nichte und meinem Neffen etwas zustößt, ertrage ich das nicht."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.