Trauer, Tradition, Gewalt: Die Industriestadt Solingen
24. August 2024Nach dem Messeranschlag während der Feierlichkeiten zum 650-jährigen Stadtjubiläum herrschen in Solingen im Bundesland Nordrhein-Westfalen Entsetzen und Trauer. Die Attacke mit mehreren Todesopfern ist ein erneuter Gewaltausbruch in einer bereits von Gewalt gezeichneten Stadt.
Und sie ist auch ein schwerer Schlag für das Selbstverständnis und die Geschichte des traditionsreichen Industriestandortes in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland Nordrhein-Westfalen. Denn die Stadt gilt bis heute als Zentrum der deutschen Schneidwarenindustrie.
Namenszusatz Klingenstadt
Seit Beginn des 13. Jahrhunderts (um 1210) ist in Solingen das Klingenhandwerk nachweisbar. Erste Schleifer ließen sich an den zahlreichen Bächen im Solinger Stadtgebiet nieder. Bereits seit dem Mittelalter gilt die bergische Stadt als Zentrum der deutschen Schneidwarenindustrie.
Bei der Herstellung von Klingen sind Unternehmen aus Solingen weltweit führend. Die Solinger Messermanufakturen stellen auch heute noch hochwertige Küchen- oder Jagdmesser her, Rasierklingen, Besteck und Taschenmesser. Etwa 90 Prozent der deutschen Schneidwaren- und Besteckhersteller sind in Solingen ansässig. Seit dem 19. März 2012 führt Solingen den amtlichen Namenszusatz Klingenstadt.
Made in Solingen
Die traditionsreiche Schneidwarenindustrie gehört aufgrund des Strukturwandels in der Region mittlerweile nicht mehr zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Im Zuge der Globalisierung haben sich viele Großbetriebe verkleinert oder die Stadt verlassen. Zu den größten Arbeitgebern der Stadt gehören Automobilzulieferer, Galvanotechnik und auch der Süsswarenhersteller Haribo.
Zu den bekanntesten Wahrzeichen der Stadt zwischen Köln und Düsseldorf gehören neben der Klingenindustrie auch die "Müngstener Brücke", mit 107 Metern höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, und die vielen Fachwerk- und Schieferhäuser.
Rechtsextreme Gewalt
Politisch ist die Stadt seit dem 28. Mai 1993 weltweit bekannt: In dieser Nacht zündeten rechtsextreme Täter das Haus der türkischen Familie Genc in der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen an. Sie übergossen eine Truhe im Hausflur mit Benzin und setzten das Haus in Brand. Dem Attentat fielen fünf Menschen zum Opfer, darunter drei Mädchen im Alter von vier, acht und zwölf Jahren. Vierzehn weitere Menschen erlitten schwere, teils bleibende Verletzungen.
Der Anschlag reihte sich ein in eine ganze Serie fremdenfeindlicher Anschläge in den 90er Jahren. In Mölln und Rostock-Lichtenhagen wurden damals Asylbewerberheime und Häuser von zugewanderten Familien angezündet, während die Anwohner applaudierten.
Gewalt gegen Migranten
In diesem Jahr geriet Solingen bereits mehrfach in die Schlagzeilen. Im März und Anfang Juni hatte es Brandanschläge in der Stadt gegeben. Vier Menschen waren dabei getötet worden, mehr als 40 Personen erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen. In beiden Fällen brannten Häuser, in denen Migranten lebten.
Im Juni berichteten Medien über sogenannte Luxusschleuser, die aus China stammende Personen mit Hilfe von Scheinfirmen nach Deutschland gelotst hätten. Bis zu 360.000 Euro sollen für die Visa bezahlt worden sein. Von der Stadt Solingen sollen elf Visa ausgestellt worden sein, drei für Personen unter 18 Jahren.
Im Zusammenhang mit der sogenannten Schleuser-Affäre wird auch gegen den Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) ermittelt. Das teilte der Oberbürgermeister selbst gegenüber der Presse mit und beteuerte zugleich seine Unschuld. Er werde von einem anderen Beschuldigten bezichtigt, Mitwisser zu sein. Das entspreche aber nicht den Tatsachen, erklärte Kurzbach.
Bedrohte Vielfalt
In Solingen leben aktuell Menschen aus 140 Nationen. Nach Angaben der Stadtverwaltung waren Ende 2022 von den insgesamt 164.000 Einwohnern rund 101.000 Deutsche ohne Migrationshintergrund, 32.000 Deutsche mit Migrationshintergrund und 30.000 Ausländer. Das Solinger Bündnis "Bunt statt Braun" veranstaltet in der Stadt regelmäßig Aktionen gegen Fremdfeindlichkeit. Erst im Januar dieses Jahres hatte es zu einer Demonstration in der Innenstadt aufgerufen. Zu der Kundgebung kamen rund 6000 Menschen.