Thomas Sanderling: Der Kapitän geht von Bord
7. März 2022Am 7. März 2022 hat Dirigent Thomas Sanderling, 79, seinen Posten an der Spitze des Symphonieorchesters von Nowosibirsk aufgegeben - aus Protest gegen den Krieg in der Ukraine. Vor ihm haben bereits Dirigenten wie Wassili Petrenko (Staatliches Akademisches Sinfonieorchester Russlands) oder Tugan Sokhiev (Bolschoi Theater Moskau) ihre Kündigungsschreiben eingereicht.
Mit Thomas Sanderling verlässt nun nicht nur einer der Kapitäne, sondern der Patriarch unter den Dirigenten Russlands das Kulturschiff des Landes. Sanderling wurde 1942 in Nowosibirsk geboren. Sein Vater, Dirigent Kurt Sanderling, floh vor den Nazis in die Sowjetunion. In den letzten Jahrzehnten arbeitete Sanderling mit führenden russischen wie westeuropäischen Orchestern.
Deutsche Welle: Herr Sanderling, mit Ihrer Herkunft und Ihrem Namen nehmen Sie in der russischen Kultur eine Sonderstellung ein. Sie stehen für die Verbindung von Ost- und Westeuropa. Sie sind Sohn des Dirigenten Kurt Sanderling, eines Freundes von Schostakowitsch, und leiten seit 15 Jahren das Orchester der Philharmonie Nowosibirsk, eines der wichtigsten in Russland. Ende März sollten Sie mit Ihrem Orchester in Moskau gastieren, nun schmeißen sie den Job. Warum? Bzw.: Warum erst jetzt? Wie schwer ist Ihnen diese Entscheidung gefallen?
Thomas Sanderling: Ich bin einfach so weit gekommen, dass ich nicht mehr schweigen konnte. Als die Invasion anfing, hat sie natürlich in mir eine innere Ablehnung hervorgerufen. Aber ich habe auch an mein Orchester und die wichtigen Konzerte gedacht. Wenn aber die russische Führung ukrainische Städte brutal zerbomben lässt, wenn Menschen sterben, die Zahl der Flüchtlinge wächst und Gesetze verabschiedet werden, die eine Verstärkung des Totalitarismus bedeuten ... das alles hat zu dieser Entscheidung geführt: Ich fühle, dass ich mein Amt verlassen muss.
"Man kann gar keine Worte dafür haben"
Noch im Oktober 2021 haben sie in Kiew das symbolische Gedenkkonzert des Massakers von Babyn Jar dirigiert, die DW hat live übertragen. Es musizierten das Deutsche Symphonieorchester und ukrainische Musiker. Nun ist auch das Memorial von russischen Raketen beschädigt. Wie konnte die Geschichte so schnell eine solche Wendung nehmen?
Ich bin kein Politiker und kann keine professionelle Erklärung dafür abgeben. Ich kann nur sagen: Das ist furchtbar. Man kann gar keine Worte dafür haben.
Sie sind eine Symbolfigur der russischen Kultur. Was wollen Sie mit ihrem Weggang der russischen Führung, russischen Künstlerinnen und Künstlern sowie den Menschen in Russland sagen?
Ich habe keine Illusionen darüber, dass meine Entscheidung irgendeinen Einfluss auf die Staatsführung in Russland haben kann. Oder auf die Menschen, die dieses Handeln der Staatsführung unterstützen. Und wie man hört, sind es nicht wenige - und das ist auch ein Grund für meine große Enttäuschung. Vielmehr schließe ich mich denjenigen an, die nicht schweigen können. Und das ist auch eine Reihe von Menschen und Künstlern.
Ihr Vater war mit Dmitri Schostakowitsch eng befreundet, auch Sie haben mit diesem Genie russischer Musik eng zusammengearbeitet. Sie selbst sind in der Kunstszene von Sankt Petersburg, damals Leningrad, aufgewachsen. Ist von der großen Tradition der russischen "Intelligenzija" heute noch etwas übrig?
Ich hatte das große Glück, Dmitri Schostakowitsch als einen väterlichen Freund zu haben. Aber Menschen wie er wurden immer weniger und weniger. Auch die Zeiten haben sich geändert. Heute ist russische Kultur nicht mehr das, was sie in meiner Kindheit war.
Viele, aber bei weitem nicht alle russischen Künstler haben sich klar positioniert und sich gegen den Krieg ausgesprochen. Andere schweigen jedoch. Warum ist es heute wichtig, Farbe zu bekennen?
Es ist wichtig, sich zu positionieren, aber man kann es nicht verlangen. Ich glaube, es ist eine Frage der individuellen Entscheidung. Ich weiß, dass viele Künstler in Russland verstört sind, dass man von ihnen erwartet, dass sie unbedingt Farbe bekennen. Und ich glaube, es gehört auch zu unserer europäischen Kultur, das Recht des Individuums anzuerkennen, sich zu einem Thema zu äußern oder auch nicht.
Sie kennen die große Kontroverse um Valeri Gergiev. Sie kennen den Maestro auch persönlich. Warum handelt er so, wie er handelt – nämlich eine Aussage zum Krieg in der Ukraine zu verweigern?
Ich kann die westliche Sicht verstehen, die eine Stellungnahme des künstlerischen Leiters erwartet. Aber man sollte auch verstehen, dass Valeri ein Familienmensch ist. Seine umfangreiche Verwandtschaft ist in Russland tätig, auch am Mariinski-Theater. Seine Aussage würde eine Auswirkung haben auf sehr viele Menschen. Damit will ich sagen: So einfach ist das Ganze für ihn nicht.
"Das Verbannen großer Kultur- und Musikwerke ist einfach dumm"
Viele russischen Künstler beklagen einen Boykott russischer Kultur, eine Art "cancel culture" in Bezug auf alles Russische. So werden etwa junge russische Künstler von Musikwettbewerben ausgeschlossen und sogar Werke russischer Komponisten aus dem Repertoire verbannt. Was halten Sie davon?
Die Kritik an der Verhaltensweise Russlands sollte nicht zu einer Bestrafung Unschuldiger führen, die das dann ausbaden müssen. Dieses "Wir wollen heute keine Russen hier haben" erinnert mich an die schlimmsten sowjetischen Zeiten, als es hieß "Wir wollen keine Ausländer". Ich finde es nicht richtig, und als Europäer kann ich nur sagen: Das steht nicht im Einklang mit unseren Werten. Und das Verbannen großer Kultur- und Musikwerke ist nicht kultiviert, sondern einfach dumm. Diese Werke sind in die Weltkultur eingeflossen. So habe ich letzte Woche in Tallin ein reines Schostakowitsch-Programm dirigiert mit dem Estnischen Staatorchester – und einer großen Anteilnahme des Publikums.
Das Gespräch führte Anastassia Boutsko