Fall Amri: "Wir sind es den Toten schuldig"
17. Mai 2017Die Einladung des Berliner SPD-Innensenators zu einem Pressestatement klang eher belanglos. Doch Andreas Geisel hatte beklemmende Neuigkeiten zu verkünden: "Nach Ansicht unserer Experten hätten die Erkenntnisse ausgereicht, um im Fall Amri einen Haftbefehl zu erwirken." Die Erkenntnisse lauten: Anis Amri hatte offenbar gewerbsmäßig und bandenmäßig mit Rauschgift gehandelt. Und das war den Berliner Sicherheitsbehörden, dem Landeskriminalamt, möglicherweise schon seit Anfang November 2016 klar; also lange vor dem tödlichen Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vom 19. Dezember mit 12 Toten und zahlreichen Verletzten.
Jetzt steht der Verdacht im Raum, dass die zuständigen Mitarbeiter diese Erkenntnisse verschleiert haben könnten oder sogar Unterlagen fälschten und rückdatierten, um sich aus der Schusslinie zu bringen. Auf Anfrage der Deutschen Welle zu diesem möglichen Beamtenskandal in Berlin heißt es aus dem Bundesinnenministerium lediglich: "Dazu wird es heute von uns keine Äußerung mehr geben."
Anis Amri stand im Fokus der Behörden - und wurde nicht verhaftet
Der Tunesier Anis Amri hatte einen LKW entführt und ihn dann in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche mitten in Berlin gesteuert. Es war der verheerendste islamistische Anschlag, den Deutschland je erlebt hat. Anis Amri stand schon lange im Fokus der Polizei und der Sicherheitsbehörden. Er unterhielt mehrere Identitäten, wurde aber nur einmal kurzfristig inhaftiert.
Innensenator Geisel ist nach den jüngsten Erkenntnissen sichtlich betroffen. Von Anfang an waren ihm die Opfer und Hinterbliebenen eine besondere Verpflichtung, das merkte man ihm an. "Wir reden nicht von einer Bagatelle. Wir reden über einen Terroranschlag mit 12 Toten und über 60 Verletzten, deren Trauma wir nur erahnen können", sagt Geisel nach den neuesten Erkenntnissen aufgewühlt.
Der Fall Amri, der schlimmste islamistische Terroranschlag, den Deutschland bisher erlebt hat, hatte eine breite politische Debatte ausgelöst und zu vielen Verschärfungen der Sicherheitsgesetze geführt. So wurde die Videoüberwachung ausgebaut, Gefährder sollen in Abschiebehaft genommen und auch schneller abgeschoben werden können. Die Debatte um Flüchtlinge verschärfte sich drastisch, CDU und CSU stritten erbittert.
Sonderermittler findet Widersprüche in den Akten
Auch Innensenator Geisel hatte sich nach dem Fall Amri für schärfere Gesetze ausgesprochen, gegen erheblichen Widerstand. Der Innensenator hatte im Dezember des vergangenen Jahres einen schweren Start in sein neues Amt. Nur elf Tage, nachdem er seinen Posten angetreten hatte, ereignete sich die Katastrophe auf dem Weihnachtsmarkt. Er fand damals die richtigen Worte, sagen Beobachter: "Unsere Gesellschaft lebt davon, dass wir frei miteinander umgehen und Weihnachten als Fest der Familie, als Fest der Freunde feiern." Von Anfang an wollte er entschieden aufklären.
Geisel hatte sich nach dem Anschlag dafür entschieden, dass nicht ein Untersuchungsausschuss die Ermittlungsarbeit übernehmen sollte, sondern ein Sonderermittler. Beauftragt wurde Bruno Jost, dem sehr schnell widersprüchliche Aktenvermerke auffielen. Die Telefonüberwachung des Asylbewerbers Anis Amris hatte ergeben, dass er mit Drogen handelte. Aber die Ermittler verzichteten offenbar darauf, diese Informationen weiterzugeben und Amri festzunehmen. Der Grund: Sie interessierten sich wohl nur für seine Aktivitäten im Bereich des islamistischen Terrorismus. Jetzt lautet der Vorwurf: Im nachhinein fälschten sie Aktenvermerke, die sie selbst belasteten.
Andreas Geisel lässt nun gegen seine eigenen Beamten ermitteln. Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig. "Wir müssen davon ausgehen, dass jetzt im Raum steht: Strafvereitelung im Fall Anis Amri und Falschbeurkundung." Gegen wie viele Beamte ermittelt wird, will Geisel nicht sagen. Nur diese Botschaft ist ihm wichtig: "Wir sind es den Toten schuldig, dass aufgeklärt wird."