Temeswar - erfolgreiche Kulturhauptstadt Europas
6. Oktober 2023In der Altstadt von Temeswar (Timisoara) in Rumänien herrscht reges Treiben: Touristen bevölkern die Straßen und Plätze der Stadt. Sie machen Fotos der restaurierten Häuser, Kirchen und Palais'. Schulklassen scharen sich um ihre Lehrer, die ihnen die Stadtgeschichte in Kürze erklären. Männer und Frauen eilen mit bunten Ausweisbändern um den Hals zu Konferenzen oder Festivals oder sitzen in Straßencafés und Restaurants. Das reichhaltige Kulturangebot und die sommerlichen Temperaturen im Kulturhauptstadtherbst sind ein Magnet für Menschen aus nah und fern. Dass viele aus dem Ausland kommen, erkennt man an den unterschiedlichen Sprachen. Vor allem Deutsch ist überall zu hören.
Aus Deutschland kam im Mai 2023 auch ein Ehrengast nach Temeswar: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. "Es war tatsächlich der erste Besuch eines deutschsprachigen Staatsoberhauptes seit Kaiser Franz Joseph, und daher waren wir sehr stolz", erinnert sich Bürgermeister Dominic Fritz im DW-Gespräch. "Temeswar ist eine der wichtigsten Städte Rumäniens und verdient deshalb Aufmerksamkeit. Die Reaktion des Bundespräsidenten und seiner Delegation hat nochmal deutlich gemacht, dass der Beitrag von Städten wie Temeswar für unser geeintes Europa mehr wertgeschätzt wird, als das in der Vergangenheit der Fall war."
Temeswar ist eine von drei europäischen Kulturhauptstädten des Jahres 2023, neben dem ungarischen Veszprem und dem griechischen Elefsina.
Konzerte und Theaterfestivals
Die Veranstalter, die Stadt und ihre Bürger haben jeden Grund, zufrieden zu sein. Mit weit über 800 Kulturevents in den vergangenen neun Monaten war und ist das Kulturhauptstadtjahr 2023 ein voller Erfolg. Zu den Highlights gehörten zahlreiche große Konzerte, darunter die Konzertreihe des Enescu-Festivals und die Aufführung der Gurre-Lieder von Arnold Schönberg. Zwei Orchester und sechs Chöre - insgesamt etwa 450 Musiker aus Temeswar und der deutschen Partnerstadt Gera - nahmen daran teil. Der musikalische Leiter Gabriel Bebeselea sprach von einem "Generationenstück", das mancher vielleicht "nur einmal im Leben zu sehen bekommt".
Ein anderer Höhepunkt war das kürzlich zu Ende gegangene europäische Theater-Festival Eurothalia, organisiert vom Deutschen Staatstheater Temeswar unter dem Motto "Perspektiven". Theaterschaffende aus elf Ländern fragten sich beispielweise: Wie unterscheiden wir richtig von falsch, wie leicht sind wir zu manipulieren, zum Beispiel in Bezug auf Putins Krieg in der Ukraine? Wie gehen wir mit künstlicher Intelligenz um? Wie mit unserem Planeten in Sachen Klimawandel, wie mit den Medien? Und wie lösen wir Probleme wie Armut und Fachkräftemangel?
Kulturelle Vielfalt sorgt für Innovation
Kennzeichnend für Temeswar ist vor allem die Multikulturalität. Beispielweise sind in der Stadt vier bedeutende Kultureinrichtungen in drei Sprachen in einem einzigen Gebäude untergebracht: die Oper, das Rumänische Nationaltheater sowie das Deutsche und das Ungarische Staatstheater.
Der aus dem Schwarzwald stammende, deutsche Bürgermeister Temeswars, Dominic Fritz, seit Herbst 2020 im Amt, erinnert sich an seinen ersten Besuch in der Stadt: "Mich hat schon als junger Mann vor genau 20 Jahren - ich war 19 Jahre alt, als ich zum ersten Mal nach Temeswar kam - fasziniert, wie diese Stadt es geschafft hat, aus ihrer kulturellen Vielfalt eine Innovationsquelle zu machen", sagt er im Gespräch mit der DW. "Die unterschiedlichen Kulturen und Perspektiven sorgen immer für neue Ideen. Denn dort, wo Homogenität herrscht, können keine neuen Ideen entstehen." Wegen dieser Vielfalt sei es Temeswar auch wirtschaftlich immer sehr gut gegangen. Fasziniert habe ihn schon als junger Mann die Geschichte der rumänischen Revolution von 1989, die in Temeswar begann. Die Menschen seien mutig für ihre Freiheit und ihre Würde auf die Straße gegangen und um den Diktator Nicolae Ceausescu zu stürzen.
Deutsches Theater in Temeswar
Theater-Intendant Lucian Varsandan und dessen Stellvertreter und künstlerischer Leiter am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT), Rudolf Herbert, betonen gegenüber der DW die Rolle deutscher Kultureinrichtungen trotz des dramatischen Rückgangs der deutschen Minderheit während der Ceausescu-Diktatur und später kurz nach der Wende. Es sei wichtig, die vielsprachigen Traditionen dieser Region zu pflegen. Auch sei das Interesse an der deutschen Kultur weiterhin groß. Mit seinen 26 festen Schauspielern im Ensemble produziert das Theater sechs bis sieben Neuinszenierungen pro Spielzeit. Die Stücke sind nicht nur für ein deutschsprachiges Publikum gedacht und daher mit Übertiteln versehen.
Für großes Interesse sorgen auch Stücke mit Bezug zur lokalen Geschichte, etwa die Koproduktion "Sidy Thal" mit dem Jüdischen Staatstheater Bukarest. Es geht um ein Attentat auf eine jüdische Theatertruppe im Jahr 1938 im Temeswarer Theater. Geschrieben wurde das Stück vom diesjährigen Stadtschreiber Thomas Perle. Der aus Rumänien stammende Autor ist kürzlich mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet worden. Nach einer szenischen Lesung in der Innenstadt-Synagoge beim Eurothalia-Festival ist die Premiere für den 4. November 2023 geplant.
Großen Erfolg erzielte das Dokudrama "Menschen. Zu verkaufen" von Carmen Lidia Vidu. Es beschäftigt sich auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten mit einem anderen dunklen Kapitel der jüngsten Geschichte: dem Verkauf von Rumänien-Deutschen durch das Ceausescu-Regime an die Bundesrepublik Deutschland.
Theaternachwuchs
Für Nachwuchs an den zwei deutschen Bühnen im Land (in Hermannstadt gibt es eine deutsche Abteilung des Nationaltheaters Radu Stanca) sorgen das deutschsprachige Nikolaus-Lenau-Gymnasium und die deutsche Schauspielschule der Temeswarer Universität mit Studenten sowohl aus Rumänien als auch aus Deutschland - die einzige Schauspielschule in deutscher Sprache außerhalb des deutschsprachigen Raumes. Sie organisiert das Festival "Network", das ab dem 10. November 2023 zahlreiche Theateraschulen aus Europa nach Temeswar eingeladen hat.
Ein Publikumsmagnet ist die vor kurzem eröffnete Ausstellung mit Werken eines der prägendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts, Constantin Brancusi. Ein Großteil der Ausstellungsstücke stammt aus dem ehemaligen Atelier des Künstlers im Pariser Centre Pompidou.
Eine europäische Kulturhauptstadt soll über das festliche Jahr hinaus der Stadt und der Region zu einer dauerhaften Entwicklung verhelfen. Bürgermeister Dominic Fritz ist zuversichtlich: "Ich hoffe, dass diese Aufmerksamkeit, dieses europäische Scheinwerferlicht der Medien und Touristen, das auf Temeswar fällt, uns auch langfristig nützt und dass die Kultur auch weiterhin eine wirtschaftliche Grundlage dieser Stadt bleiben wird."