Gedenken an den Kriegsbeginn - und Angst vor Krieg
1. September 2014Sie sprechen in zwei Sprachen und reden doch als Verbündete. Die Staatspräsidenten Polens und Deutschlands, Bronislaw Komorowski und Joachim Gauck, haben beim Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren jeder neuen Aggression in Europa eine Absage erteilt. Und sie betonten die Notwendigkeit, jedem Revisionismus, jedem neuen Nationalismus entschieden entgegenzutreten - "wehrhaft", betonte Komorowski. Mit einer "deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik" der Europäischen Union, sagte Gauck.
Der Ort ihrer Reden hätte symbolträchtiger kaum sein können. Jahr für Jahr gedenkt Polen auf der Westerplatte, der Halbinsel bei Danzig an der Ostsee, des Angriffs, mit dem Deutschland den Zweiten Weltkrieg auslöste. Am Morgen des 1. September 1939 feuerte das deutsche Kriegsschiff "Schleswig-Holstein" auf die polnische Festung im Delta der Weichsel. Nach zähem Widerstand ergab sich einige Tage später die dort stationierte Gruppe polnischer Soldaten. Der Krieg, der hier begann, forderte Millionen Tote.
Das Völkerrecht beschwören
Komorowski und Gauck erinnerten an das Leid des polnischen Volkes. Der Bundespräsident sprach von der Scham, die er bis heute spüre, und nannte die Aussöhnung ein "Wunder". Komorowski beklagte, dass sein Land nach 1945 in die kommunistische Unfreiheit "gezwungen" worden sei und erst 1989 dem Weg Westeuropas in die Freiheit habe folgen können. Dabei zeigt das in den 1960er Jahren errichtete gewaltige Mahnmal der Westerplatte die Gesichtszüge eines polnischen und eines russischen Soldaten Seite an Seite an einer Waffe.
Beide Präsidenten nannten - als hätten sie es abgesprochen - die Ukraine nicht ausdrücklich. Aber sie pochten auf internationales Recht, auf Völkerrecht. Entschlossene, fast auch verzweifelt entschlossen klingende Reden. Gaucks letztes Wort war "verteidigen". Das bleibt als Mahnung. Nur ein Moment durchbrach die ernste Stimmung dieser Stunde. Während das Warschauer Orchester ein Werk Krzysztof Pendereckis spielte, winkte Komorowski zwei knapp zehnjährige Jungen heran. Stolz schüttelten sie die Präsidentenhände und einer machte ein Handyfoto der Gäste. Aber gelöst wirkte Gauck auch in diesem Moment nicht.
Begonnen hatten die Feiern zum Jahrestag des Kriegsbeginns mehr als zwölf Stunden vorher. Bereits nachts waren einige tausend Menschen überwiegend aus Danzig auf die Halbinsel der Westerplatte gekommen, mit Fahnen und Fackeln, Kerzen und Blumengestecken, wie jedes Jahr. Gegen 4.45 Uhr, der Stunde des deutschen Angriffs von 1939, begann die Militärkapelle zu spielen. Dann folgten drei eher kurze Reden. Und alle drei Redner, der polnische Regierungschef, der Danziger Stadtpräsident und der Erzbischof der Stadt, kamen nach der Erinnerung an die Geschichte und der Würdigung der polnischen Verteidiger der Westerplatte auf das Stichwort Ukraine.
Historisches Gedenken - aktuelle Sorgen
Am deutlichsten wurde Ministerpräsident Donald Tusk. Der künftige EU-Ratspräsident drängte nachdrücklich auf eine Stärkung der Nato. "Wir Europäer müssen aus dem tragischen polnischen September und den Jahren des Zweiten Weltkriegs eine Lehre ziehen, die kein naiver Optimismus sein darf", mahnte er. Er bezog sich damit gleichermaßen auf den deutschen Angriff auf die Westerplatte und auf die Invasion der Roten Armee gut zwei Wochen später. "Wenn wir heute auf die Tragödie der Ukrainer blicken, auf den Krieg im Osten unseres Kontinents, dann wissen wir, dass der September 1939 sich nicht wiederholen darf. Heute ist noch Zeit, dem Einhalt zu gebieten."
Tusk traf die Stimmung vieler Polen. "Ja, wir haben Angst", sagte der 22-jährige Krzysztof. "Wer weiß, was kommen wird." Wie er wirkten viele Besucher der Westerplatte am Gedenktag. Gelassener blieb einer der Veteranen. Waszlaw Butowski, fast 89 Jahre alt und gestützt auf jüngere Helfer, mit Auszeichnungen am Revers: "Die Spannung, die wir in früheren Jahren hatten, war viel schlimmer. Aber wir erleben das alles nach." Butowski bleibt am Ende eines langen Tages gerührt über die Gemeinsamkeiten von Polen und Deutschen.
Als die Staatspräsidenten am Abend längst in der Danziger Innenstadt waren, lag das Feld vor dem gewaltigen Mahnmal leer da. Nur hinten im Gras stand, 30 oder 40 Meter breit, in gewaltigen weißen Lettern der Schriftzug "NIGDE WIENSEI WOJNE" - "Nie wieder Krieg".