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Eine Atmosphäre der Selbstzensur

Ceyda Nurtsch14. Januar 2016

Privatinvestoren sind in der Türkei willkommen, wenn es um Kunst und Kultur geht. Doch die Freiheit von Künstlern und Journalisten wird zunehmend eingeschränkt. Die alternative Kunstszene ist in den Hintergrund getreten.

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'The Most Beautiful of All Mothers', eine Skulptur von Adrián Villar Rojas (Foto: Istanbul Biennale/K. Karacizmeli)
Bild: Istanbul Biennale/K. Karacizmeli

In den vergangenen Monaten war ganz Istanbul ein riesiges Freilichtmuseum, so schien es. Über 500.000 Besucher strömten von September bis November zu den 30 Veranstaltungsorten der 14. Internationalen Istanbul Biennale, um die Werke der ausstellenden türkischen und internationalen Künstler zu sehen. Ein neuer Besucherrekord für die Biennale, die als größte internationale Veranstaltung der Türkei gilt.

Gesponsert wird sie von der Koç-Holding, die gerade zugesichert hat, die Biennale bis 2026 weiterhin finanziell zu unterstützen. Die Familie Koç ist ein wohlhabender Familienclan, der, ähnlich wie die Eczacıbaşı oder Tahincioğlu, den Kultursektor als Investitionsmarkt für sich entdeckt hat. Etliche Sammlungen und Museen stehen in ihrem Besitz. Sie organisieren Festivals, bringen Bücher heraus und versuchen, die türkische Kunstszene attraktiv für ausländische Investoren zu machen.

Künstler, die sich für Kurden einsetzen, werden bestraft

Demonstranten halten die türkische Flagge als Schutz vor Wasserwerfern (Foto: Reuters)
Mit Tränengas und Wasserwerfern wurden die Gezi-Park-Demonstranten 2013 von der Polizei vertriebenBild: Reuters

Doch hinter den Kulissen dieses "Kulturbooms" sieht es anders aus. Die Internetplattform Siyah Bant untersucht und dokumentiert Fälle von Zensur im Kunstbereich. Kürzlich veröffentlichte sie eine Zusammenfassung des Türkei-Berichts der Europäischen Kommission für das Jahr 2015.

Deren Bilanz im Bereich Meinungs- und Informationsfreiheit ist verheerend: Künstler, die sich für die Rechte von Kurden einsetzen, werden auf Grundlage des Antiterror-Gesetzes bestraft, Theater- und Musikstücke fallen immer häufiger der Zensur zum Opfer. Theaterkompanien, die in ihren Stücken die Gezi-Bewegung unterstützen, werden Gelder gekürzt, und die Zahl der Verfahren wegen Beleidigung des Staatspräsidenten nimmt zu. All dies führt zu einer zunehmenden Selbstzensur.

Bahar Çuhadar ist Theaterkritikerin der Tageszeitung "Radikal". Sie kann etliche Beispiele nennen, in denen das Kulturministerium bei Filminhalten und Schauspielen am Staatstheater eingegriffen hat. "Da wird Druck ausgeübt, indem man Gagen streicht oder Vorstellungen absagt. Das geht bis hin zu gerichtlichen Verfahren und zur Mobilisierung von bestimmten Presseorganen, die konkrete Personen diffamieren", so Çuhadar.

"Zensur macht die Menschen nur noch kreativer"

Porträtbild der Theaterkritikerin Bahar Cuhadar vor einer Requisite (Foto: privat)
Die Theaterkritikerin Bahar ÇuhadarBild: picture alliance / dpa

Seit einigen Jahren bestimmen allerdings eher kleinere und unabhängige Theater die Theaterszene Istanbuls. Das stimmt Bahar Çuhadar etwas optimistisch: "Zensur macht die Menschen nur noch kreativer, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Das Wichtigste dabei ist die Ironie." In ihren Stücken setzen sich diese unabhängigen Theater auch mit der Staatsgewalt auseinander. "Und mittlerweile", berichtet Çuhadar stolz, "spielen renommierte Schauspieler in diesen Theatern mit".

Doch die allgemeine Stimmung ist gedrückt. "Die Zensur in der Türkei hat unter der AKP eine neue Qualität bekommen", sagt die Stadtsoziologin Ayça İnce. Seit 2010 sei besonders in der Kulturpolitik eine Vereinheitlichung nach den eigenen Vorstellungen der Regierung zu beobachten. "Das Problem ist, dass die Regierung ihre konservativen Werte nicht genau definiert hat und willkürlich entscheidet, wann zum Beispiel eine Beleidigung des Propheten oder des Präsidenten vorliegt", so İnce.

Keine Tradition der Kulturpolitik

Dabei hatte sich die AKP vor ihrem ersten Wahlsieg 2002 Demokratisierung und Kulturpluralismus auf die Fahnen geschrieben. Viele Intellektuelle, Liberale und Künstler hatten die Partei deshalb unterstützt. Die habe sich allerdings mehr um Infrastruktur und Kommunalpolitik gekümmert und nicht viel daran geändert, dass die Türkei keine Tradition der Kulturpolitik hat, erklärt Ayça İnce.

Die wenigen neuen Museen sollten vor allem das islamisch-türkische Erbe betonen, etwa das Panorama-Museum zur Eroberung Istanbuls durch die Osmanen. Dagegen blieben im Bereich moderner Kunst öffentliche Gelder aus. Ähnlich sieht es beim Musiktheater aus: Istanbul wurde zwar 2010 Europäische Kulturhauptstadt, hatte aber kein bespieltes Opernhaus.

Panoramabild der Hagia Sophia bei Sonnenuntergang (Foto: picture-alliance/dpa/M. Becker)
Moschee und traditionelles Museum: Die Hagia Sophia in IstanbulBild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Dabei hatte die sogenannte Gezi-Bewegung im Sommer 2013 Anlass zur Hoffnung auf mehr Freiheit gegeben. Über Monate hatten Menschen gegen den Umbau des Istanbuler Gezi-Parks in ein Einkaufszentrum demonstriert. Der Wind von Freiheit und Kreativität fegte durch die Straßen, Häuser und Köpfe der Menschen. Doch heute erinnern sich viele nur mit einem müden Lächeln an die Zeit zurück. Seit dem brutalen Vorgehen der Regierung gegen die Proteste sehen sich neben Künstlern auch Journalisten zunehmend Repressionen ausgesetzt.

Dramatische Zuspitzung seit den Wahlen

Besonders seit dem ersten Durchgang der Parlamentswahlen im Juni 2015 hat sich die Lage für regierungskritische Stimmen drastisch zugespitzt. Im September stürmten AKP-Anhänger die Tageszeitung Hürriyet. Im Oktober griff ein Schlägertrupp den Journalisten Ahmet Hakan vor seiner Haustür an. Immer wieder werden Nachrichtensperren verhängt, so auch nach dem blutigsten Anschlag der türkischen Geschichte im Oktober in Ankara, bei dem über 100 Menschen ums Leben kamen.

Aufgebot an Polizisten, die den türkischen Fernsehsender Kanalturk stürmen (Foto: Reuters/M. Sezer)
Die Polizei stürmt die regierungskritischen Fernsehsender Kanalturk und BugunBild: Reuters/M. Sezer

Nur Tage vor dem zweiten Durchgang der Parlamentswahlen am 1. November stürmten Polizisten mit Kettensägen und Wasserwerfern die Fernsehsender Kanaltürk und Bugün vor laufenden Kameras. Die Fernsehsender gehören dem Medienkonzern Koza-Ipek an, der der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen nahesteht. Erdoğan wirft Gülen und seinen Anhängern vor, mit einem "Parallelsystem" den Staatsapparat zu unterwandern und die Regierung stürzen zu wollen. Gülen weist die Vorwürfe zurück. Mittlerweile gilt die Gruppe als Terrororganisation.

Die freie Presse ist am Boden

Mit der Inhaftierung des Chefredakteurs der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und seines Büroleiters, Erdem Gül, Ende November 2015 erreichte die Pressefreiheit einen neuen Tiefpunkt. Die beiden wurden der Spionage und Verbreitung von Staatsgeheimnissen angeklagt. Ende Mai hatte die Zeitung Cumhuriyet Aufnahmen veröffentlicht, die eine Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes an den IS Anfang 2014 belegen sollen. Nach Aussagen der Regierung handelt es sich bei der gezeigten Lieferung um Hilfsgüter. Auch anderen Cumhuriyet-Mitarbeitern drohen hohe Haftstrafen wegen der Veröffentlichung von Charlie-Hebdo-Karikaturen nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin im Januar 2015.

Die Journalist Can Dündar und Erdem Gül in einer Menschenmenge (Foto: picture-alliance/AP Photo/V. Arik, Cumhuriyet)
Die Journalisten Can Dündar und Erdem GülBild: picture-alliance/AP Photo/V. Arik, Cumhuriyet

Entgegen der Aussage von Staatspräsident Erdoğan, die Türkei habe die freieste Presse der Welt, bewerten viele internationale Nichtregierungsorganisationen die derzeitigen Entwicklungen als besorgniserregend. Sie kritisieren die immer stärkere Medienkonzentration in den Händen regierungsnaher Unternehmen sowie eine zunehmende systematische Internetzensur und fordern ein Ende des Missbrauchs von Antiterror- und Verleumdungsgesetzen. Derzeit steht die Türkei auf der Rangliste für Pressefreiheit auf Platz 149 von 180 Staaten, und mehr Freiheit für Presse und Kunst scheint momentan in weiter Ferne.

Die Autorin Ceyda Nurtsch promovierte in Türkischer Literatur und arbeitet als freie Journalistin in Berlin und Istanbul. Für die Deutsche Welle berichtet sie regelmäßig über Kultur und Politik in der Türkei. Ihr Text ist in Kooperation mit der Zeitschrift "Politik und Kultur" für das Projekt "Art of Freedom. Freedom of Art." entstanden.