Türkei: Anwälte hinter Gittern
21. September 2018Der "Verein Moderner Juristen"(ÇHD) aus der Türkei spricht von 572 inhaftierten Anwälten, gegen die im Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung ermittelt wird. Diese Bewegung ist im Visier der türkischen Regierung, die den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht.
Den inhaftierten Anwälten wird vorgeworfen, "Mitglied einer Terrororganisation" zu sein oder "eine Terrororganisation zu unterstützen". Gökmen Yesil, der Vorsitzende des ÇHD-Büros in Istanbul, erläutert, dass sein Verein nur mit internationaler Hilfe herausfinden konnte, wie hoch die Zahl der inhaftierten Anwälte ist - dank der Recherchen europäischer Institutionen, die weltweit Ermittlungen gegen Anwälte beobachten und verfolgen. In der Türkei sei es nicht möglich, diese Fälle zu bestätigen.
Viele Anwälte würden beschuldigt, Mitglied einer Terrororganisation zu sein, weil sie Menschen verteidigten, denen dasselbe vorgeworfen wird, erläutert der Vorsitzende der Anwaltskammer in Ankara, Hakan Canduran. Nach der Logik: "Wenn Anwälte Gülen-Anhänger verteidigen, dann sympathisieren sie selbst mit der Bewegung. Oder wenn Anwälte Angeklagte der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) verteidigen, dann sympathisieren sie selber mit der Bewegung." Die linksradikale DHKP-C steht auf der Liste der terroristischen Vereinigungen der Europäischen Union.
"Selbstverteidigungsrecht der Anwälte wird verletzt"
Hakan Canduran erinnert an mehrere Dekrete nach dem Putschversuch, die Anwälte daran hindern sollten, ihre Mandanten zu verteidigen. "In welchem Land der Welt wäre es möglich, dass ein Vollzugsbeamter beim Gespräch zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten anwesend ist, mithört und sich sogar einmischt? Oder wo wäre es möglich, ein solches Gespräch mit einem Mikrofon aufzuzeichnen? Wo bleiben denn die Rechte des Mandanten oder die des Anwalts, diesen zu verteidigen?", empört sich Canduran.
Trotz eingeschränkter gesetzlicher Bestimmungen versuchen einige Anwaltskammern, Initiative zu ergreifen und sich mit Anwälten zu solidarisieren. Ein Vorsitzender der Anwaltskammer in Ankara berichtet, dass 36 von 79 türkischen Anwaltskammern eine Presseerklärung veröffentlicht hätten, um eine Verbesserung der Zustände in Haftanstalten zu fordern.
Vergangene Woche fand ein Prozess gegen 20 Anwälte statt. Anwälte, die bei Razzien in ihren Häusern am 20. September 2017 interniert und anschließend verhaftet wurden, wird vorgeworfen, Mitglieder der linksradikalen DHKP-C zu sein.
Nach fünf Prozesstagen wurden sie am vergangenen Freitag entlassen, um dann nur zwölf Stunden später, nach dem Einspruch eines Staatsanwalts, vom selben Gericht wieder schuldig gesprochen zu werden. Elf der entlassenen Anwälte wurden wieder verhaftet, nach sechs weiteren wird gefahndet.
"Sie haben die Tür zerschlagen und unser Haus gestürmt"
Einer von ihnen ist Süleyman Gökten. Gegen seine Ehefrau Ezgi Cakir, die ebenfalls Anwältin ist, läuft auch ein Prozess. Am vergangenen Dienstag habe die Polizei das Haus des Ehepaars gestürmt, sagt sie: "Sie suchten meinen Mann. Mittlerweile ist es sehr leicht, die Häuser der Anwälte zu stürmen. Kein Zuständiger von der Anwaltskammer war anwesend. Sie haben die Wohnungstür wie Banditen aufgebrochen und sind hereingekommen. Sie haben alles durchsucht. Und dann haben sie noch eine Stunde gebraucht, um die Tür wieder zu reparieren. Es waren wohl 30 bis 40 bewaffnete Polizisten."
Einige ihrer Kollegen seien in Isolationshaft, berichtet sie. Einem von ihnen sei mittels Folter der Arm gebrochen worden. Außerdem hätte man ihnen nicht die notwendigen Bedingungen geboten, um sich angemessen auf ihre Verteidigung vorbereiten zu können. Ezgi Cakir darf die Türkei nicht verlassen und muss einmal im Monat im Polizeipräsidium vorsprechen.
Darüber hinaus erwähnt die Anwältin, dass das Selbstverteidigungsrecht ihrer Kollegen missachtet werde: "Wir haben zwar Mandanten, denen Terror vorgeworfen wird. Aber wir sind doch Anwälte. Wir verteidigen sie. Wir verfolgen die Ermittlungen im Fall unserer Mandanten, die ermordet wurden. Wir kümmern uns auch um ihre Beerdigungen. Wir sagen ja nicht, dass wir das nicht machen würden, aber wir sagen, dass das alles keine Straftat darstellt."
Foltervorwürfe gegen die Polizei
Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei gibt es zahlreiche Foltervorwürfe - auch von Seiten der verhafteten Anwälte. In sozialen Medien kursieren Videos, in denen zu sehen ist, wie ihre Häuser gestürmt werden oder wie sie zu Boden gerissen werden. In der Türkei sei die Justiz nicht mehr unabhängig, sagt Sebnem Korur Fincanci, Gerichtsmedizinerin und Vorsitzende der international bekannten "Menschenrechtsstiftung der Türkei" (TIHV). "Befehle kommen von ganz oben, Menschen werden interniert und verhaftet. Die Abläufe der Internierung an sich stellen schon eine Folter da. Bei der Festnahme besteht die Polizei auf das Recht, Gewalt anwenden zu dürfen, solange diese nicht unverhältnismäßig sei." In der Türkei erreiche diese Gewalt aber schon die Grenzen der Folter und werde damit zu einer Straftat. "Die Zustände und Abläufe bei Verhaftungen auf offener Straße, in Gerichtsgebäuden oder nach Razzien in Wohnungen sind wirklich sehr traurig."