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Gesellschaft

Türkei: Alkoholfrei in den Lockdown

Daniel Derya Bellut
29. April 2021

Um die Infektionszahlen zu verringern, geht auch die Türkei in einen strikten Lockdown. Eine Regelung hat jedoch viele liberale Türken verärgert: Der Verkauf von Alkohol ist während dieser Zeit im ganzen Land verboten.

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Türkischer Verkäufer vor einem Weinregal
Zugriff verweigert - In der Türkei darf in den kommenden drei Wochen kein Alkohol mehr verkauft werden.Bild: picture-alliance/dpa/S. Suna

Wochenlang vermeldete die Türkei alarmierende Corona-Zahlen. Vergangene Woche infizierten sich erstmals mehr als 60.000 Menschen innerhalb von 24 Stunden. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf über 500 an, in der größten türkischen Metropole Istanbul lag sie sogar bei 850. Die türkische Regierung sah sich gezwungen, im Kampf gegen die Pandemie die Notbremse zu ziehen: Ab sofort tritt ein dreiwöchiger Lockdown in Kraft, der strenge Einschränkungen für die türkische Bevölkerung bedeutet. Geschäfte und Schulen sind geschlossen. Reisen zwischen Städten sind in dieser Zeit nur noch mit Sondergenehmigung möglich. Menschen dürfen nur noch aus triftigen Gründen auf die Straße. Am 17. Mai soll dieser "umfassende Lockdown" dann wieder aufgehoben werden, pünktlich zum Ende des Zuckerfestes und dem Beginn der Urlaubssaison.

Obwohl weite Teile der Bevölkerung die strengen Corona-Maßnahmen insgesamt akzeptieren und als notwendig ansehen, sorgt eine Regelung für Unverständnis: Während des Lockdowns kommt es zu einem landesweiten Alkoholverkaufsverbot. Die türkischen Kioske, "Tekel Bayi" genannt, die vorwiegend Alkohol und Tabakwaren anbieten, dürfen in den nächsten drei Wochen keinen Alkohol verkaufen. "Für diese Läden wird keine Ausnahme gemacht, sie bleiben geschlossen. Da gibt es kein Wenn und Aber", stellte der türkischen Innenminister Süleyman Soylu unmissverständlich klar.

Süleyman Soylu, der Türkischer Innenminister
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu Bild: picture-alliance/abaca/Depot Photos

"Rührt meinen Alkohol nicht an"

Die Regierung argumentiert, dass mit dem Verbot der gemeinschaftliche Alkoholkonsum unterbunden und dadurch größere Menschenansammlungen verhindert würden. Dabei ist der Verzehr von Alkohol auf offener Straße ohnehin verboten. Viele Türken sehen in der Initiative daher einen Versuch der Regierung, die Alkoholpolitik langfristig weiter zu verschärfen. In den sozialen Medien kam es bereits zu heftigen Diskussionen. Unter den Hashtags "Rührt meinen Alkohol nicht an" oder "Rührt meine Grundrechte nicht an" ließen zahlreiche Nutzer ihrem Frust freien Lauf. Das Alkoholverbot sehen die Gegner als eine ideologisch motivierte Entscheidung sowie als Einmischung in den Lebensstil säkularer Türken an. "Wir haben einen Platz in den Geschichtsbüchern sicher", twittert etwa dieser User, "als erstes Land, das glaubt, ein Virus mit einem Alkoholverbot zu besiegen."

Juristen bezweifeln Rechtsgrundlage

"Hier geschieht etwas, das wir ernst nehmen sollten: eine Intervention in den Lebensstil und das Privatleben, ein Eingriff in Recht und Freiheit", kritisierte Muharrem Erkek, Rechtsexperte der größten Oppositionspartei CHP. "Ein Eingriff in das Privatleben von Menschen, die Alkohol auf Märkten kaufen und zu Hause trinken, hat nichts mit Pandemie-Bekämpfung zu tun", erklärte auch Dogan Erkan, Mitglied der Anwaltskammer in Ankara und appellierte sogleich an seine Landsleute: "Halten Sie sich nicht an dieses Verbot, es hat keine Rechtsgrundlage!" 

Dogan Erkan, der Jurist
Das Alkoholverkaufsverbot besitze keinerlei Rechtsgrundlage, meint der Jurist Dogan Erkan aus Ankara.Bild: DW/G. Solaker

Bisher gebe es nur mündliche Anweisungen von Präsident Erdoğan und Innenminister Soylu, erklärt Erkan. Mündliche Anordnungen seien jedoch kein Teil der Rechtsprechung. "Diese Personen sind dem Gesetz nicht übergestellt". Das Verbot sei eine Verordnung, die sich offensichtlich aus religiösen Regeln ableite. Gemäß Artikel 24 der Verfassung könne die soziale, wirtschaftliche, politische und rechtliche Ordnung des Staates aber nicht auf religiösen Regeln beruhen, stellt der Jurist aus Ankara klar.

Der Verwaltungsrechtsexperte Metin Günday erklärte der DW, dass Händler, Lieferanten und Verbraucher das Recht hätten, juristisch gegen das Alkoholverbot vorzugehen. "Laut Verfassung ist der Staat zwar verpflichtet, junge Menschen vor Alkoholsucht zu schützen. Den Alkohol gleich ganz zu verbieten, ist jedoch etwas völlig anderes".

Alkoholkonsum wird immer mehr zum Luxus

Die islamisch-konservative Regierung drängte in den vergangenen Jahren vermehrt auf Tabak- und Alkoholverbote. So wurde ein Rauchverbot in geschlossenen Räumen eingeführt. Als besondere Bevormundung wurde es von großen Teilen der türkischen Bevölkerung aufgenommen, dass Kioske seit 2013 ab 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen dürfen. Zudem erhebt die Regierung immer höhere Steuern auf Alkohol und vergibt Alkohollizenzen nur unter strengen Vorgaben an Geschäfte und Restaurants.

Türkei Umstrittenes Alkoholgesetz tritt in Kraft
Der Anisschnaps Raki gilt vielen als inoffizielles türkisches NationalgetränkBild: picture-alliance/dpa/T. Bozoglu

Besonders hart traf es die Liebhaber des türkischen Anisschnaps Raki, im Volksmund "Löwenmilch" genannt: Während eine große Flasche 2010 noch für umgerechnet 4,20 Euro erhältlich war, liegt der Preis heute aufgrund einer Alkoholsteuer bei 15,30 Euro - und das obwohl die beliebte Spirituose vielen Türken als Nationalgetränk gilt. Für den türkischen Präsidenten dürfte das jedoch nicht mehr als eine Randnotiz sein; er preist seit Jahren das alkoholfreie Joghurtgetränk Ayran als Nationalgetränk an.