Istanbuls Tavernen - ein sterbendes Kulturgut
4. Februar 2021Die "Meyhane" gehören zu Istanbul wie der Bosporus, die Hagia Sophia oder der Galata-Turm. Die urigen, authentischen Tavernen prägen seit jeher das Bild in Amüsiervierteln wie Nevizade, Kadiköy oder Besiktas. Hier trifft man sich - setzt sich in einer lauen Sommernacht auf die Terrasse, spielt eine Runde Backgammon; dabei werden türkische Vorspeisen, sogenannte Meze, gereicht und ein Glas Raki getrunken. Aufgrund seiner milchigen Farbe, die der Anisschnaps beim Mischen mit Wasser annimmt, spricht man im Volksmund von "Löwenmilch".
Viele Istanbuler fürchten nun um diese typische Tavernenkultur. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie und den strengen Hygienemaßnahmen, die für viele Ladenbesitzer eine finanzielle Herausforderung darstellen. Auch eine Initiative der türkischen Regierung könnte nun dazu führen, dass viele dieser Etablissements bald schließen müssen. Nach Aussagen des türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP sollen die Bezeichnungen Meyhane (Taverne), Shisha-Bar und Tabakladen verboten werden – demnach soll es nicht mehr erlaubt sein, diese Bezeichnungen auf den Ladenschildern zu führen. Dies sei eine notwendige Maßnahme im Rahmen der "Suchtbekämpfung", so Oktay.
Die berühmte Gasse Nevizade im Istanbuler Stadtteil Beyoglu ist normalerweise so voll mit Tavernen-Besuchern, dass man sich in ihr kaum bewegen kann. Heute ist sie wie ausgestorben. Nur eine einzige Taverne hat geöffnet. An der Tür hängen alte Konzertplakate, ein Schild vor der Eingangstür wirbt für 'Kalte Vorspeisen zum Mitnehmen'. "Unsere Tavernenkultur ist dabei, zu verschwinden," beklagt sich der Tavernenbetreiber Hakki Karakoc. "Davon wird sie sich nicht mehr erholen."
Morgül: Tavernen waren schon immer ein Ärgernis
Der aus Istanbul stammende Autor und Gastronomieexperte Tan Morgül widmete schon viele seiner Bücher der typischen Istanbuler Tavernenkultur. Die Tavernen, erklärt er der DW, seien den Machthabern in der Türkei schon seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. "Istanbul war schon in der byzantinischen Zeit eine Stadt, in der viele menschliche Zivilisationen zusammenkamen" sagt der heute in London lebende Morgül. "Die Menschen versammelten sich stets in öffentlichen Räumen wie Trinkhallen oder Tavernen". Schon immer habe man sich dort die Sorgen vertrieben.
Aber für die Mächtigen seien sie immer ein kontroverser Ort gewesen, ergänzt Morgül. "Von Byzanz bis zum Osmanischen Reich – die Konservativen mochten die Tavernen nie". Denn sie seien die einzigen Orte, an denen die Regierung keinen Einfluss habe - "weil die Leute dort zusammenkommen und ihre Probleme und Ideen austauschen." Bereits der französische Dichter Honoré de Balzac habe gesagt, dass die Tavernen "das Parlament des Volkes" seien, so Morgül. Aus diesem Grund waren sie bereits im Osmanischen Reich mehrfach verboten worden.
Alkohol und Tabak werden immer teurer
Für die Maßnahmen der aktuellen Regierung hat Tavernen-Betreiber Karakoc keinerlei Verständnis. Karakoc berichtet, dass es für ihn und seine Kollegen in den vergangenen Jahren ohnehin immer schwieriger geworden sei. Die AKP-geführte Regierung drängt seit einigen Jahren darauf, den Verkauf von Tabak und Alkohol immer weiter einzuschränken - bis hin zu einem vollständigen Verbot. Zunächst wurde ein Rauchverbot in geschlossenen Räumen eingeführt. Als besonders bevormundend wurde ein 2013 erlassenes Gesetz wahrgenommen, nach dem Kioske ab 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen dürfen. Verstöße werden seitdem mit hohen Geldstrafen geahndet. Die für Tavernen-Liebhaber schmerzhafteste Entwicklung ist jedoch der stete Preisanstieg für den geliebten Anisschnaps Raki: War eine 0,7-Liter-Flasche 2010 noch für umgerechnet 4,20 Euro erhältlich, liegt der Preis heute aufgrund einer Alkoholsteuer bei 20,50 Euro.
Eine unnütze Regelung?
Ob das Verbot der Tavernen-Schilder ein guter Schritt zur Suchtprävention ist, wird von vielen Experten in Frage gestellt. Es sei "abwegig zu glauben, dass ein Alkoholsüchtiger sich vom Trinken abbringen lässt, nur weil kein Schild an der Taverne angebracht ist", kritisiert etwa Baris Gürkas. "Wenn das Ziel der Regierung tatsächlich die Suchtbekämpfung wäre, dann wäre doch der erste Schritt, die Gesundheitsvorsorge zu verbessern", so der in Istanbul praktizierende Psychologe. Außerdem sei es zielführender, den Abhängigen und von Abhängigkeit bedrohten Menschen psychologische Unterstützung zukommen zu lassen.
Seltsam sei es auch, dass der Alokoholkonsum für Einheimische immer stärker eingeschränkt werden soll, während das regierungseigene Tourismusministerium den Konsum von Raki weiter anpreist: Auf der ministeriumseigenen Webseite "Go Turkey" wird Touristen nahegelegt, türkische Vorspeisen zusammen mit einem Glas Raki zu genießen. "Die Meze sind nicht bloß dazu da, Ihren Magen zu füllen", heißt es dort. "Wenn Sie nebenbei einen Raki genießen, wird jede Vorspeise ein wenig anders schmecken".