Südkoreas geheime "Säuberungsaktionen" und Olympia 1988
20. April 2016Es war nichts weiter als ein geklautes Stück Brot, das das Leben des damals 14-jährigen Choi Seung-woo für immer verändern sollte. Ein Polizist griff den Jungen an jenem Tag im Jahr 1982 auf und forderte unter Gewaltandrohung sein Geständnis. Der Beamte riss die Schuluniform von Chois Leib und hielt ein brennendes Feuerzeug an sein Genital. An diesem Tag begann für den Jugendlichen ein fünfjähriger Alptraum, wie ihn Hunderte andere Straßenkinder und "Vagabunden" ebenfalls durchlitten.
Eine monatelange Recherche der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP) hat jetzt das Ausmaß der wohl schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen der südkoreanischen Nachkriegsgeschichte ans Tageslicht gebracht. Die Aufklärung des Falls wird AP zufolge bis heute von der amtierenden Regierung unterdrückt.
Eng verbunden mit dem Skandal ist ausgerechnet ein Sportereignis, das sich im Kollektivgedächtnis der Südkoreaner als historischer Wendepunkt eingebrannt hat: Während der Olympischen Spiele 1988 in Seoul konnte sich das Land am Han-Fluss erstmals im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit präsentieren - als aufstrebende Wirtschaftsmacht, hochmodern und selbstbewusst. Dabei forderten zu ebenjener Zeit wütende Studenten ihr Recht auf Demokratie ein.
"Konzentrationslager für unerwünschte Personen"
Der damalige Autokrat Chun Doo-hwan war besorgt um die internationale Reputation seines Landes und leitete gigantische "Stadtverschönerungen" ein, um das Image Südkoreas aufzupolieren: Privatautos durften damals nur jeden zweiten Tag fahren, Hundefleisch-Restaurants wurden vorübergehend geschlossen und über 720.000 Bewohner alter Barackensiedlungen zwangsumgesiedelt.
Weniger bekannt ist, dass im Vorfeld der Olympischen Spiele auch Tausende "Vagabunden" in systematischen Verhaftungswellen von den Straßen weg verschleppt wurden. Die Säuberungsaktionen der Polizei trafen nicht nur Obdachlose, Alkoholiker und psychisch Kranke, sondern zu einem Großteil verwahrloste Kinder. 4000 von ihnen landeten im sogenannten "Brüder-Heim" im südkoreanischen Busan, der größten von Dutzenden Einrichtungen, die man damals für solche "unerwünschten Personen" errichtet hatte. Ein ehemaliger Rechtsanwalt sagt nun: "Das war keine Wohlfahrtseinrichtung, sondern ein Konzentrationslager."
Bis heute sei niemand für die Todesfälle, Vergewaltigungen und Misshandlungen bei den "Brüdern" zur Rechenschaft gezogen worden. AP schreibt, dass das Ausmaß der Misshandlungen in dem Heim weit über das Wenige hinausgeht, das bislang darüber bekannt geworden war, und beruft sich auf exklusiven Zugang zu Dokumenten und Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern und Insassen.
Viele profitierten von dem Missbrauchsheim
Allein laut Angaben der Heimleitung sollen zwischen 1975 und 1986 insgesamt 513 Insassen gestorben sein. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. In den medizinischen Akten wurde als Todesgrund meist "Herzfehler" oder "allgemeine Schwäche" angegeben. Aus Angst vor Fluchtgefahr sollen Insassen erst in Krankenhäuser gelassen worden sein, als diese bereits halb im Sterben lagen. Ein Zeitzeuge berichtet von einem "Strafvollzugsraum", in dem täglich Inhaftierte zu Tode geprügelt wurden. Die Leichen sollen auf Anordnung des Heimleiters in einem nahegelegenen Waldstück begraben worden sein.
Die Recherchen von AP offenbarten, wie diverse staatliche Institutionen an dem Missbrauchsheim profitiert haben: Die öffentlichen Behörden waren froh, dass sie einen Platz gefunden hatten, um die "Landstreicher" unterzubringen. Trotz erforderlicher Kontrollmaßnahmen verlängerten sie leichtfertig die Jahresverträge mit dem "Brüder-Heim". Das Heim selbst erhielt Regierungssubventionen abhängig von der Anzahl der Insassen. Die Betreiber sollen daher laut internen Dokumenten die örtlichen Polizisten dazu angestachelt haben, immer mehr Landstreicher von den Straßen aufzutreiben. Die Polizisten wiederum erhofften sich Beförderungen auf Grundlage ihrer Festnahmen.
Für den Besitzer war das "Brüder-Heim" vor allem ein wirtschaftlich hochprofitables Geschäft: Auf dem abgeschirmten Gelände sollen die Insassen als weitgehend unbezahlte Arbeitssklaven in 20 Fabriken gearbeitet haben. Die dort hergestellten Hemden und Schuhe seien auch nach Europa exportiert worden.
Sobald ausländische Beobachter die Einrichtungen besuchten, wurde das Gros an Insassen weggesperrt, während die besonders gesunden Inhaftierten dazu gezwungen wurden, den Schein einer funktionierenden Wohlfahrtseinrichtung zu wahren.
Düstere Vergangenheit soll unaufgeklärt bleiben
Erst Ende der 1980er-Jahre wurde das Heim nach einer Razzia geschlossen. Einer der Staatsanwälte, die damals darauf drängten, die Ermittlungen einzustellen, dient heutzutage der konservativen Regierungspartei als Berater. Nach direkten Interventionen des damaligen Präsidenten Chun Doo-hwan musste der Heimleiter nicht für die Missbrauchsfälle büßen, sondern lediglich für die Veruntreuung von Millionen an Regierungsgeldern zweieinhalb Jahre Haft absitzen. Seine Familie führte noch bis 2013 weitere Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen.
Während sich Südkorea nun für die olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang vorbereitet, haben die ehemaligen Insassen bislang weder finanzielle Entschädigungen erhalten noch eine offizielle Entschuldigung. Versuche eines oppositionellen Abgeordneten, den Fall erneut aufzurollen, werden von der Regierung weiterhin abgelehnt - mit der Begründung, dass die Ereignisse bereits zu lange zurückliegen. "Sich nur auf einen einzigen Menschenrechtsvorfall zu fokussieren, würde die Regierung finanziell belasten und einen negativen Präzedenzfall schaffen", sagte ein Beamter des Innenministeriums der Nachrichtenagentur AP.
Es war übrigens der damalige Militärdiktator Park Chung-hee, der im Jahr 1975 erstmals die Polizisten des Landes dazu angeordnet hatte, die Straßen der Stadt von Landstreichern zu "säubern". Park ist der 1981 ermordete Vater der heutigen Präsidentin Park Geun-hye.
Längst wurde das ehemalige Heim abgerissen. Eine Apartmentsiedlung steht mittlerweile auf dessen Grundstück. In den neunziger Jahren entdeckten Bauarbeiter bei Ausgrabungen dort rund Hundert Knochenstücke, eingewickelt in blaue Planen.