"Zeichen für das deutsche Kino"
22. August 2019Das System der deutschen Oscareinreichungen wird "Systemsprenger" nicht sprengen. Auch in der Vergangenheit wurden immer mal wieder deutsche Filme für die Kategorie "Bester nicht-englischsprachiger Film" eingereicht, die aktuelle gesellschaftliche Themen aufgegriffen haben. Trotzdem ist die Entscheidung von "German Films", das Debüt von Regisseurin Nora Fingscheidt für den Oscar vorzuschlagen, eine große Überraschung.
In "Systemsprenger" geht es weder um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus noch um DDR-Historie. Es geht auch nicht um Geschichte in irgendeiner anderen Form. Solche Filme hatten die Deutschen in den vergangenen Jahren vor allem ausgewählt, wenn es darum ging deutsches Kino bei den Oscars zu protegieren. Und sie hatten damit ja auch Erfolg.
Bei den deutschen Oscareinreichungen dominierten historische Stoffe
Die drei letzten deutschen Oscar-Gewinner hatten jeweils einen Blick auf deutsche Geschichte geworfen bzw. auf die Folgen, die für die Menschen daraus entstanden: "Die Blechtrommel", "Nirgendwo in Afrika" und "Das Leben der Anderen". Und auch bei den Filmen, die zwar ohne Trophäe blieben, die es aber in die Endauswahl der fünf von der Oscar-Academy nominierten Werke schafften, hatten historischen Themen im Vordergrund gestanden.
Nun also "Systemsprenger". Überraschend ist die Wahl auch deshalb, weil sich "Systemsprenger" gegen fünf Filme durchsetzen konnte, die in das "klassische", das herkömmliche Schema der deutschen Oscar-Kandidaten der letzten Jahre gepasst hätten.
Fingscheidts Films setzte sich gegen historische Stoffe durch
"Deutschstunde" nach dem Roman von Siegfried Lenz wäre eine Art Pendant zur "Blechtrommel" gewesen, im Film "Und der Zukunft zugewandt" geht es um eine bittere Episode der frühen DDR-Geschichte, "Der Fall Collini" blickt auf den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit NS-Verbrechen, "Heimat ist ein Raum aus Zeit" ist eine Dokumentation, die sich mit der Familien-Geschichte des Regisseurs über mehrere Generationen auseinandersetzt. Und auch die verfilmte Hape-Kerkeling-Biografie "Der Junge muss an die frische Luft" bot eine heiter-melancholische Variante bundesrepublikanischer Geschichte. Einzig Jan-Ole Gersters psychologische Studie "Lara" und eben Fingscheidts "Systemsprenger" fielen aus dem Raster.
"Wir haben in einer sehr intensiven und konstruktiven Debatte versucht, unterschiedliche Aspekte abzuwägen", sagt Frédéric Jaeger, Sprecher der von "German Films" einberufenen Jury zur diesjährigen Entscheidung, ein aufrüttelndes Sozialdrama ins Oscar-Rennen zu schicken. Natürlich sei es bei den Debatten auch darum gegangen, welche deutschen Filme in der Vergangenheit mit welchen Themen Erfolg gehabt hätten, räumt Jaeger ein: "Am Schluss haben wir uns aber nicht gegen historische Stoffe entschieden, sondern für diesen zeitgenössischen Film, weil wir in ihm einen herausragenden Kandidaten sehen."
Das Mädchen Benni sprengt das System des Sozialstaates
Bei der Berlinale feierte "Systemsprenger" im Februar Welturaufführung und verblüffte das internationale Publikum. Fingscheidt erzählt die Geschichte des neunjährigen Mädchens Bernadette, genannt Benni, die aufgrund traumatischer Erlebnisse in Heimen und bei Pflegefamilien aufwächst. Immer wieder rebelliert das Kind gegen Erzieher und ihre Ersatz-Eltern. Kaum jemand kommt mit ihr zurecht. Einzig ein junger Pädagoge, der es normalerweise mit Straftätern zu tun hat, kann eine gewisse Nähe zu Benni aufbauen. Doch auch er scheitert letztendlich an der Wut und den ungebremsten Emotionen des jungen Mädchens.
Benni ist ein "Systemsprenger", weil sie sich in keiner Institution integrieren lässt. Frédéric Jaeger: "Der Film ist vielschichtig und nuancenreich, mittendrin ein Wirbelsturm, drumherum Regen, Wolken und Sonnenschein: Nora Fingscheidt hat einen ungemein dynamischen Film gedreht, außergewöhnlich gut besetzt und inszeniert, über ein schwieriges Thema, mit einem humanistischen Blick und einer Lust an der Kino-Erzählung."
Regisseurin Nora Fingscheidt fragt nach der Zukunft von Kindern wie Bennie
"Wir haben diesen Film gemacht, um Verständnis für Kinder wie Benni zu wecken", erklärt Regisseurin Nora Fingscheidt die Kernidee des Films: "Der Strudel aus Wohnorten, der dauerhafte Wechsel von Bezugspersonen. Wie soll ein Kind, dessen einzige Kontinuität der Wechsel ist, irgendwo Halt finden?"
Die große Stärke des Films liegt in der filmischen Form, die die 1983 in Braunschweig geborene Regisseurin gefunden hat. Ihr Debüt ist alles andere als eine trockene Sozialstudie, was bei dem Thema möglicherweise nahegelegen hätte, verliert sich aber auch nicht in "unterhaltenden" Genrespielereien. "Systemsprenger" ist dynamisch inszeniert, mitreißend gespielt, geht ans Herz eines jeden Zuschauers.
Die Oscar-Academy ist in den letzten Jahren offener geworden
Doch lassen sich damit auch die Mitglieder der Oscar-Academy überzeugen? Die hat sich in den letzten Jahren immerhin gewandelt, mehr weibliche Filmschaffende, mehr afroamerikanische Filmkünstler wurden berufen, eine größere Vielfalt hat in der Academy Einzug gehalten. Zuvor waren Vorwürfe laut geworden, die Academy würde von einer Garde alter, weißer Männer dominiert, die immer nur eine ganz bestimmte Art von Filmen auszeichnet.
"Wir glauben, die Academy-Mitglieder sollten den Film mindestens in Erwägung ziehen", gibt sich Jaeger hoffnungsfroh: "Das könnten sie sogar, wenn sie so thematisch denken, wie es ihnen oft unterstellt wird. Schließlich erzählt 'Systemsprenger' von einem Sozialsystem, von dem in den USA, gerade heute, nur geträumt werden kann."
Frédéric Jaeger: "Neugierde der Academy wecken"
Die Erfolge des Films "Systemsprenger" auf Festivals könnten Frédéric Jaeger und der von "German Films" einberufenen Jury recht geben. Nach der Berlinale-Premiere, wo "Systemsprenger" einen Silbernen Bären gewann, wurde Fingscheidts Debüt auf mehreren Festivals in Asien und Europa gezeigt und auch ausgezeichnet. "'Systemsprenger' wurde international bereits sehr positiv rezipiert und setzt somit selbst Zeichen für das deutsche Kino", sagt Jaeger: "Wir setzen darauf, dass der Film damit die Neugierde der Academy-Mitglieder weckt."