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PolitikSyrien

Syriens Alawiten: Assad und die Angst

Cathrin Schaer
2. Januar 2025

Der in Syrien gestürzte Assad-Clan gehört der Minderheit der Alawiten an. Deren Angst vor Diskriminierung nutzte das diktatorische Regime für den Machterhalt. Nun, nach dem Ende der Diktatur, leben sie in neuer Sorge.

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Ein hohes gemauertes Mosaik an einer Straße zeigt ein Bildnis des verstorbenen Diktators Hafis al-Assad, es ist übermalt mit der syrischen Fahne und den Worten "Frei"
Übertüncht: Ein monumentales Bildnis von Syriens verstorbenem Diktator Hafis al-Assad in DamaskusBild: SAMEER AL-DOUMY/AFP/Getty Images

Tausende Syrerinnen und Syrer gingen jüngst auf die Straße, um gegen Angriffe auf einen Schrein zu protestieren. Der religiöse Ort in Syriens zweitgrößter Stadt Aleppo ist ein wichtiges Heiligtum der Alawiten, einer islamischen Minderheit, der auch der vertriebene Diktator Baschar al-Assad angehört.

"Nein zum Verbrennen von Heiligtümern und religiöser Diskriminierung. Nein zu Sektierertum. Ja zu einem freien Syrien", stand dem arabischen Sender "Al Jazeera" zufolge auf den Transparenten der Demonstrierenden.

Die Proteste begannen als Reaktion auf ein Video in den sozialen Medien, das die Attacken auf den Schrein dokumentieren soll. Möglicherweise ist das Video nicht authentisch und zeigt einen viel älteren Vorfall. Die Proteste illustrieren jedoch den schwierigen Weg, den Syrien beim Übergang in eine Demokratie vor sich hat.

Insbesondere Mitglieder der alawitischen Minderheit befürchten, dass sie nun bestraft und verfolgt werden, weil die Assad-Familie, die Syrien 54 Jahre lang brutal regiert hat, aus ihrer Gemeinschaft stammt. Immer wieder wird behauptet, die Alawiten hätten von der Assad-Diktatur profitiert. Im Rückblick zeigt sich, dass sie gerade wegen ihrer Verbindung zum Regime auch einen hohen Preis bezahlt haben.

Wer sind Syriens Alawiten?

Schätzungen zufolge waren 10 bis 13 Prozent der Bevölkerung Syriens Alawiten, bevor 2011 der Krieg begann. Die religiöse Gruppierung wird dem schiitischen Islam zugeordnet, ihr Hintergrund ist jedoch wesentlich komplexer.

Der alawitische Islam entstand im 9. Jahrhundert in Nordostsyrien. Dort gab es zu dieser Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Religionsexperten zufolge haben Alawiten eine abweichende Interpretation im Bezug auf mehrere Säulen des Islam - die wichtigsten Regeln für gläubige Muslime. Diese umfassen unter anderem das Gebet, soziale Pflichtabgaben oder die Pilgerreise nach Mekka.

Alawiten ziehen es vor, ihre Religion im Privaten auszuüben. Bisweilen wird der religiösen Sondergemeinschaft Geheimniskrämerei nachgesagt. Alawitische Frauen müssen kein Kopftuch tragen, sind jedoch von den religiösen Zeremonien ausgeschlossen. Bei ihren religiösen Ritualen trinken Alawiten auch Wein, zudem spielt die Natur eine große Rolle, beispielsweise Sonne, Mond und Sterne. Die Pilgerfahrt nach Mekka, die Muslime mindestens ein Mal im Leben unternehmen sollen, können Alawiten auch symbolisch vollziehen.

Eine Luftaufnahme von einer Stadt an der Mittelmeerküste (Latakia in Syrien), mit Blick auf Hochhäuser, Hafen und Küste
Hafenstadt am Mittelmeer: Während der Kolonialzeit war Latakia die Hauptstadt eines autonomen Alawitenstaates Bild: AAREF WATAD/AFP/Getty Images

Gemeinsam mit den Schiiten ist den Alawiten der Glaube an die Göttlichkeit von Ali ibn Abu Talib, bekannt als Imam Ali. Er gilt als erster Führer der Schiiten im 7. Jahrhundert. Dennoch wurden Alawiten aufgrund ihrer Glaubensauffassung in der Vergangenheit regelmäßig der Ketzerei beschuldigt. Zudem wurden sie in der Vergangenheit von fast allen Machthabern in ihrem Siedlungsgebiet diskriminiert - von den christlichen Kreuzfahrern bis zu den türkischen Osmanen.

Emanzipation durch die Kolonialmacht

Das änderte sich im frühen 20. Jahrhundert, während der französischen Kolonialzeit in der Region. Im Zuge ihrer Teile-und-Herrsche-Politik gewährten die Franzosen den Minderheiten der Alawiten und Drusen Sonderrechte gegenüber der muslimischen Mehrheitsbevölkerung. 1922 durften die Alawiten sogar einen rechtlich autonomen Staat an der Mittelmeerküste gründen.

Während Mitglieder der sunnitischen Mehrheit es ablehnten, in der von Frankreich kontrollierten Armee zu dienen, sahen Alawiten darin kein Problem. Zumal sie erstmals in ihrer Geschichte in einem Staat lebten, der sie nicht wegen ihres Glaubens verfolgte.

Die Ängste der Minderheiten in Syrien

Als sich Frankreich 1946 zurückzog und Syrien seine Unabhängigkeit erlangte, hatten die Alawiten in Politik und Militär eine Vormachtstellung erlangt, so Forschende des Foreign Policy Research Institute in Philadelphia, USA. 1955 stellten sie 65 Prozent der Unteroffiziere in der Armee. Als 1963 fünf Offiziere einen Putschversuch unternahmen - einer von mehreren in der turbulenten postkolonialen Zeit -, waren drei von ihnen Alawiten. Einer davon: Hafis al-Assad, der schließlich 1971 allein die Macht übernahm.

Hafis al-Assad sei es gelungen, sich als "einziger Repräsentant" der Alawiten zu etablieren, schreibt der alawitische syrische Autor Adnan Younes im Onlinemagazin "Zenith". Assad habe eine neue alawitische Identität geformt, die bis zum Sturz seines Sohnes Baschar al-Assad die wichtigste Stütze des Regimes gewesen sei. Diese neue Identität habe in starkem Kontrast zur bisherigen gestanden, die eher von Abschottung und Widerstand geprägt war. Zugleich hätten die Alawiten Assad als den "Gründer des modernen Syrien" unterstützen und sich seines Vertrauens als würdig erweisen müssen. Zu seinem eigenen Schutz umgab sich Assad nur mit loyalen Alawiten. Nicht loyale Mitglieder der Minderheit, etwa Kommunisten, ließ Assad verfolgen und inhaftieren.

Eine überlebensgroße Statue des verstorbenen syrischen Diktators Hafis al-Assad liegt gestürzt auf dem Boden, ein Mann steht breitbeinig darauf, ein Bein auf dem Kinn, das andere auf der Brust der Figur
Gestürzt: Ein Denkmal von Hafis al-Assad, der Syrien von 1971 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 diktatorisch regierteBild: Middle East Images/AFP/Getty Images

Zudem bemühte sich der Machthaber, die Unterschiede zwischen alawitischer Minderheit und muslimischer Bevölkerungsmehrheit herunterzuspielen. "Er baute Moscheen in alawitischen Städten, betete öffentlich und fastete, und er ermutigte seine Leute, das gleiche zu tun", schreibt Joshua Landis vom US-amerikanischen Thinktank Quincy Institute for Responsible Statecraft, der mit einer syrischen Alawitin verheiratet ist. Zudem habe Assad versucht, die alawitische Glaubensgemeinschaft davon abzuhalten, Feiertage zu begehen, die sie bisher oft gefeiert hatten: das persische Neujahr Nouruz und das christliche Weihnachtsfest.

Dominierend in Militär und Politik

Zugleich stellte Assad die alawitische Minderheit unter seinen Schutz: Wurde sie angegriffen, übte der Staat Vergeltung. Zwischen 1979 und 1981, während Aufständen gegen das Regime, wurden hunderte alawitische Soldaten und andere Mitglieder der Glaubensgemeinschaft zum Ziel der Muslimbrüder, einer sunnitischen Gruppe mit einer islamistischen Ideologie. Das Assad-Regime tötet rund 2000 Muslimbrüder. Anschließend belagerte und bombardierte die Armee im Februar 1982 die Stadt Hama, wo sich der Widerstand der Muslimbruderschaft konzentrierte. Geschätzt 10.000 bis 25.000 Zivilisten kamen damals ums Leben.

Vor einem Gebäude mit vergitterten Fenstern stehen Männer Schlange und warten auf Einlass
Distanzierung: Ehemalige Militär- und Polizeiangehörige warten vor einem Versöhnungszentrum, um ihrer Verbindung zum Assad-Regime abzuschwörenBild: Chris McGrath/Getty Images

Die Alawiten betrachteten die Islamisten als Bedrohung und sprachen sie daher für eine säkulare Regierung in Syrien aus. Die Angst vor den Islamisten nutzten Hafis al-Assad und sein Sohn Baschar aus, um die alawitische Gemeinschaft jahrzehntelang zu manipulieren. Nur das Assad-Regime, so ihre Behauptung, werde sie schützen. Auch nach dem Sturz der Diktatur sorgen sich die Alawiten weiter um ihre Sicherheit.

Ernüchterung über Assad

Unter dem 13 Jahre dauernde Krieg in Syrien haben die Alawiten ganz besonders gelitten. Der Asylagentur der Europäischen Union zufolge wurden in einigen Städten und Dörfern mit mehrheitlich alawitischer Bevölkerung 60 bis 70 Prozent der jungen Männer im Krieg entweder getötet oder verwundet. Viele junge Alawiten versteckten sich oder flohen, um einer Einberufung durch die Armee zu entgehen.

Zunehmend enttäuscht von Assad wendeten sich in den vergangenen Jahren viele Alawiten vom Regime ab. Das zeigt eine Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) von Anfang 2024.

Solange sie nicht der kleinen gesellschaftlichen Elite um den Assad-Clan angehörten, erlebten die Alawiten die gleiche wirtschaftlichen Not, wie die übrige syrische Bevölkerung. Wie diese konnten sie ihre Meinung nicht frei äußern und besaßen auch sonst keine politischen Privilegien, so die KAS-Forschenden.

Die Alawiten als entweder pro-Assad oder als ausschließlich anti-Assad zu beschreiben, erfasse das nuancierte Meinungsspektrum der religiösen Minderheit nicht. Es rangiere von treuen Regime-Anhängern zu vorsichtigen Dissidenten, so die Wissenschaftler. Eine Entweder-Oder-Sichtweise berücksichtige auch nicht die sozioökonomischen Schwierigkeiten, die Alawiten genauso träfen wie andere Syrer, oder die überproportionalen Verluste ihrer Gemeinschaft.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.