Idlib - von der Welt im Stich gelassen
4. Februar 2020"Die Menschen in Idlib können entweder zu Hause bleiben und dem Tod ins Auge sehen, oder sie können versuchen, die Grenze zur Türkei zu überqueren, auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben", sagt der Syrer Mustafa Dahnon, der an der Grenze zu Türkei steht, in seine Kamera. Den kurzen Videoclip verbreitet der junge Mann über den Kurznachrichtendienst Twitter. Unter dem Motto "Von Idlib nach Berlin" waren mehrere Tausend Menschen am Wochenende aus der syrischen Provinz an die Grenze zur Türkei marschiert, um die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln zu bewegen, denn sie fühlen sich von der Welt im Stich gelassen.
Assads "Entscheidungsschlacht"
Seit zwei Monaten bombardieren die Truppen von Baschar al-Assad und Russland die Bevölkerung in Idlib. Die Provinz im Nordwesten des Landes ist die letzte Bastion, die von Rebellen und Extremisten kontrolliert wird. Und Syriens Machthaber Assad will auch diese Gegend unter seine Kontrolle bringen. Assad-Truppen rücken mit Unterstützung der russischen Luftwaffe vor und haben bereits Dutzende Ortschaften eingenommen, darunter auch die wichtige Stadt Maarat al-Numan. Diese wurde nahezu menschenleer gebombt.
Assad nennt die Offensive eine "große Entscheidungsschlacht". Dazu gehört offenbar auch, die Infrastruktur der Provinz zu zerstören. "Eine beachtliche Anzahl von Krankenhäusern ist getroffen worden, manche sind teilweise, manche vollständig zerstört worden", erklärt Cristian Reynders von der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Für die Verwundeten gebe es immer weniger Möglichkeiten, behandelt zu werden, sagt der Projektkoordinator für den Norden Idlibs - mit fatalen Folgen: "Je weiter die Menschen fahren müssen, um einen Arzt aufzusuchen, desto größer ist die Befürchtung, dass sich ihr Zustand verschlechtert oder sie auf dem Weg dahin sogar sterben." Im gesamten südlichen Teil der Provinz gibt es nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Idlib keine einzige Klinik mehr. Zuletzt wurde dort das Krankenhaus in Ariha angegriffen, dabei kamen mindestens zehn Zivilisten ums Leben. Moskau bestreitet, damit etwas zu tun zu haben.
Eskalation zwischen Regierungstruppen und Türkei
Assad und sein Verbündeter Russland haben es sich zum Ziel gemacht, die letzten Rückzugsgebiete der Rebellen, die von der Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert werden, zurückzuerobern. Eigenen Angaben zufolge wollen sie die HTS-Dschihadisten vernichten - HTS ist aus dem syrischen Ableger der Al-Kaida hervorgegangen. Nach Angaben des US-Sondergesandten für Syrien, James Jeffrey, sollen das syrische Militär und die russische Luftwaffe aber alleine in den vergangenen Tagen mehr als 200 Luftschläge gegen die Zivilbevölkerung geflogen haben.
Die Türkei, die in Idlib an der Seite der Rebellen steht, hatte in der Provinz zwölf Beobachtungsposten eingerichtet, die eigentlich einen Waffenstillstand überwachen sollten. Doch mehrere Vereinbarungen über Waffenstillstände zwischen Assads Schutzmacht Russland und der Türkei sind bisher gescheitert. Jetzt soll die syrische Armee bei ihrem Vormarsch nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums fünf türkische Soldaten und einen zivilen Mitarbeiter getötet haben, die Teil eines Konvois waren. Assads Soldaten hätten angegriffen, obwohl sie zuvor auf die Stellungen der türkischen Kräfte hingewiesen worden seien.
Türkei will mit am Tisch sitzen
Die Türkei reagierte mit einem Gegenangriff. Nach Auskunft von Präsident Recep Tayyip Erdogan wurden dabei bis zu 35 syrische Soldaten getötet. Es sei nicht möglich, einen solchen Angriff unbeantwortet zu lassen, sagte Erdogan: "Wir werden weiter Rechenschaft dafür verlangen." An Russland gerichtet sagte er: "Ihr solltet uns nicht im Wege stehen." Das russische Militär teilte mit, die türkische Seite habe die Russen nicht über ihre Bewegungen informiert. Deshalb seien sie unter Beschuss der syrischen Regierungstruppen geraten.
Manche sehen in dem Angriff aber auch eine Botschaft Russlands an die Türkei, sich außerhalb ihrer Grenzen zurückzuhalten: "Erdogan sieht sich zwar als Garant der oppositionellen Kräfte", sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Für die Türkei geht es bei ihrem Engagement in Idlib aber auch darum, weiterhin einen Platz am Verhandlungstisch zu haben, wenn es um die Ordnung in Syrien geht."
Eine humanitäre Katastrophe
"Erdogans Hauptsorge besteht allerdings darin, dass noch mehr Menschen aus Syrien versuchen könnten, in die Türkei zu fliehen", sagt Brakel. Insgesamt 390.000 Menschen sind nach UN-Angaben seit Anfang Dezember 2019 aus Idlib geflohen. Die Zahl der Vertriebenen allein in den vergangenen neun Monaten soll sich auf 750.000 belaufen. Der Marsch zur Grenze soll vor allem symbolische Wirkung haben, und dennoch erhofft sich der eine oder andere, doch noch über die geschlossene Grenze in die Türkei zu kommen. Das sei auch nicht ausgeschlossen, sagt Türkei-Experte Brakel. Auch wenn die Grenze verstärkt worden sei, einige Grenzbeamte ließen sich mit Geld bestechen - Geld, das viele Menschen aus Idlib aber gar nicht haben. Stattdessen harren viele von ihnen in Flüchtlingslagern vor der Grenze aus - im Regen, in der Kälte und ohne ausreichende medizinische Versorgung. UN-Organisationen warnen bereits seit langem vor einer drohenden humanitären Katastrophe.
In wenigen Wochen jährt sich der Ausbruch des Syrien-Krieges zum neunten Mal. Und eines ist schon länger klar: Machthaber Baschar al-Assad ist der militärische Sieger dieses Krieges. Doch um ganz Syrien wieder einzunehmen, fehlt ihm die Kontrolle über Idlib. Ob Zivilist oder Extremist, die Regierungstruppen und ihre Verbündeten machen bei ihren Angriffen auf Idlib offenbar keinen Unterschied.