Südafrika: Der geplatzte Traum der Regenbogennation
26. April 2024Mit großer Euphorie war Südafrika mit den ersten freien Wahlen 1994 neu gestartet. Stundenlang warteten die Menschen darauf, ihre Stimmen abzugeben. Die Aufbruchstimmung begleitete Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft zum Präsidenten gewählt worden war, ins Amt.
Der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die politische Partei Mandelas und ehemalige Anti-Apartheid-Bewegung, regiert bis heute. Doch im Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre im "Land der Hoffnung" fällt die Bilanz nüchtern aus. Die Wirtschaft am Kap ist marode, die Gesellschaft sozial gespalten, die Menschen fühlen sich von der Politik nicht verstanden.
Die Schere zwischen Arm und Reich wächst - dabei war es ein zentrales Anliegen der Schwarzen Regierung bei Amtsantritt, diese Kluft zu überwinden und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Die Frustration über diesen zerplatzten Traum sitzt tief.
Aber es gibt auch wichtige Errungenschaften. Fredson Guilengue, Programmleiter für das südliche Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesburg, hebt einige hervor: "Es ist gelungen, eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt einzuführen, eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, freie und faire Wahlen zu etablieren." Darüber hinaus nennt er im DW-Interview die LGBTQ-Rechte, ein erweitertes Bildungswesen - und größeren Zugang zu Elektrizität, zu Wohnraum und Sozialleistungen für die Ärmeren.
So war zum Beispiel die Verfassung des demokratischen Südafrika die erste der Welt, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verbot. Schon 2006 erlaubte der Staat als fünftes Land der Welt und erstes Land in Afrika die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner.
Korrupte Interessen
Darüber hinaus hat Südafrika noch immer eine robuste und aktive Zivilgesellschaft, die für ihre Rechte lautstark eintritt. In den letzten Jahren hat das Land jedoch unter der internen Dynamik innerhalb des regierenden ANC gelitten. Machtkämpfe und korrupte Interessen warfen das Land immer wieder zurück.
Die Folgen: tagtäglicher Stromausfall - verursacht durch den von Korruption und Verschuldung geplagten staatlichen Energieversorger Eskom -, hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Armut, steigende Lebenshaltungskosten.
Die Jugendarbeitslosigkeit - etwa jeder zweite junge Mensch unter 34 Jahren gilt als arbeitslos - hat laut Guilengue die soziale Instabilität weiter befeuert. Denn sie verstärke das Gefühl, dass Ausländer den Einheimischen die wenigen verfügbaren Arbeitsplätze wegnehmen.
Enttäuschung über die Politik
Die Regierungspartei hat über die Jahre stetig an Vertrauen verloren. So könnte der ANC bei der Wahl im Mai - bei der Präsident Cyril Ramaphosa zum zweiten Mal kandidiert - erstmals unter die 50-Prozent-Hürde sinken.
Laut Wirtschaftsanalyst Daniel Silke macht sich eine tiefe Enttäuschung über die Befreiungspartei breit. Diese sei "unfähig, ethische Standards aufrechtzuerhalten, die insbesondere von Nelson Mandela gesetzt wurden", sagt Silke zur DW.
Die Südafrikaner seien wütend auf die Führung, weil sie die Chance vertan habe, Südafrika nach seinem einzigartigen Übergang an die Spitze der Nationen zu bringen. "Die Bemühungen, die Menschen zu einer Nation zusammenzubringen, die in den frühen Mandela-Jahren wirklich spürbar waren, haben sich verflüchtigt."
Absturz unter Jacob Zuma
In die folgenschwerste Krise schlitterte das Land unter der Führung von Jacob Zuma, der von 2009 bis zu seiner Absetzung 2018 regierte. In dieser Zeit plünderte er den Staat mit Hilfe seines weiten Korruptionsnetzes bis an den Rand des Bankrotts. Davon hat sich Südafrika nicht erholt. Vielmehr hielten Klientelismus und Vetternwirtschaft bis heute an, betont Silke.
Der Zusammenbruch der Infrastruktur und Logistik bei stagnierender Wirtschaft erinnert täglich an den Abstieg des einst reichsten Industrielandes in Afrika. "Es herrscht ein großes Unbehagen in der Bevölkerung", sagt Silke.
Tiefe Wunden aus der Apartheid-Ära
Kritische Beobachter stellen auch die Frage, ob drei Jahrzehnte ausreichen, um das Erbe der langen und tiefgreifenden Prozesse des Kolonialismus und der Apartheid zu beseitigen. So sieht Verne Harris, geschäftsführender Direktor der Nelson Mandela Stiftung, die Gesellschaft in großen Schwierigkeiten: "Wir müssen uns fragen, warum haben wir es nicht besser gemacht," sagt er zur DW.
Denn die Messlatte war hoch gesetzt: "Einige junge Leute sagen, Mandela war ein Verräter", so Verne mit Blick auf die Versprechungen auf ein besseres Leben in einem geeinten Land. "Wir müssen uns mit diesen Diskursen auseinandersetzen und einige unserer Kompromisslösungen überdenken."
Anfang der 1990er Jahre sei allen bewusst gewesen, dass es einige Generationen dauern würde, die Gesellschaft zu heilen, zu reparieren und die Demokratie in ihr zu verankern. "Doch wir haben uns zu dem Glauben verleiten lassen, wir könnten die Dinge sehr schnell in Ordnung bringen", bilanziert Harris. "Das hat in einigen Fällen zu Schnellschuss-Lösungen geführt, die uns nicht geholfen haben."
Internationaler Friedensstifter
International scheint sich Südafrika - gerade nach seinen Erfahrungen der Apartheid - als Verfechter des Kampfes gegen Unterdrückung auf globaler Ebene positionieren zu wollen, sagt Guilengue.
Deshalb leite das Land friedensstiftende Initiativen, entsende Truppen in Länder der Region, ziehe vor internationale Gerichtshöfe: Ende Dezember 2023 hatte Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IStGH) in Den Haag beschuldigt, im Gaza-Krieg gegen die Völkermordkonvention verstoßen zu haben.
Südafrika habe verstanden, dass die traditionelle Partnerschaft mit dem Westen nicht ausgewogen sei und sich ändern müsse. "Aus diesem Grund drängt Südafrika auf Reformen im UN-Sicherheitsrat und ist Mitglied des BRICS-Blocks, der für sich in Anspruch nimmt, für faire Regeln und Wirtschaftspartnerschaften zu kämpfen", sagt Guilengue und fügt an: "Vielleicht werden wir in Zukunft ein aktiveres Südafrika sowohl in Afrika als auch weltweit erleben."