1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAfrika

Stürzt der Konflikt Äthiopien in den Krieg?

Kate Hairsine
22. Juli 2021

Immer mehr Milizen wollen in Äthiopien Krisenregion Tigray kämpfen. Experten befürchten, dies könnte zu neuer ethnischer Gewalt führen. Andere sprechen von äthiopischer Einheit. Die Not der Bevölkerung wird immer größer.

https://p.dw.com/p/3xoYM
Zerstörter Regierungspanzer bei Humera
Zerstörter Regierungspanzer bei Humera: "Milizen als Kanonenfutter"Bild: Stringer/File/REUTERS

Weitere Milizen und Spezialeinheiten aus mehreren Regionen Äthiopiens setzen ihre Kämpfer in Marsch: Sie sollen die militärischen Angriffe der Bundesregierung in Tigray unterstützen. Diese Mobilisierung zeigt nach Einschätzung von Beobachtern, dass sich der Konflikt in Tigray ausweitet - einer Region, die um ihre Unabhängigkeit kämpft. Humanitäre Organisationen warnen bereits, dass die anhaltenden Kämpfe eine Hungersnot auslösen werden. Die Verteilung von Lebensmitteln bereite bereits große Schwierigkeiten.

Konvoi mit Lebensmitteln überfallen

Am Wochenende wurde ein Lastwagenkonvoi im umkämpften Tigray überfallen, heißt es in einer Meldung der Vereinten Nationen. Zehn Lastwagen des UN-Welternährungsprogramms sind am Sonntag etwa 115 Kilometer von Semera entfernt angegriffen worden, als die Hilfsorganisation lebenswichtige Versorgungsmittel in die Region Tigray bringen wollte. Semera ist Hauptstadt der Afar Region, die im Osten an Tigray grenzt.

Der Weg über Semera nach Tigray war in den vergangenen Wochen für Hilfskonvois die einzig befahrbare Route geworden, nachdem zwei Brücken auf anderen Strecken im Juni zerstört wurden.

Gewalt in Tigray hält an

Seit der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed im November eine Militäroffensive gegen die Rebellen in Tigray startete, kämpften auch bewaffnete Gruppen aus Amhara - einer großen Region, die an den Süden von Tigray angrenzt - an der Seite der Bundestruppen.

Doch nun schalten sich Kämpfer aus weiteren sechs Regionen in den Konflikt ein, die darin vorher gar nicht verwickelt waren. Sie stammen aus Oromia, der bevölkerungsreichsten Region Äthiopiens, sowie aus Sidama, Somalia und den Südlichen Nationen, Nationalitäten und Völkern (SNNP).

Äthiopien | Zerstörte Brücke am Tekeze Fluss in Tigray Region
Zerstörte Brücke über den Tekeze: Wichtige Versorgungsrouten unpassierbarBild: Roger Sandberg/AP/picture alliance

Äthiopien hat ein föderales System mit zehn Regionen und zwei autonomen Städten. Alle haben eigene Spezialeinheiten. Dazu kommen lokale Bauern-Milizen. "Wir haben über 2000 Kämpfer an die Front geschickt", sagte der Verwalter der Western Gojam Zone in Amhara, Simenhe Ayalew, vor wenigen Tagen der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Milizen haben wenig Kampferfahrung

Die Kämpfer aus den Regionen hätten vielleicht jeder eine Kalaschnikow bekommen sowie eine sehr rudimentäre Ausbildung sagt Kjetil Tronvoll, Professor für Friedens- und Konfliktforschung an der Bjørknes-Hochschule in Oslo. Aber sie würden hinzugezogen, weil der Krieg die föderalen Streitkräfte dezimiert habe. "Die Tragödie ist, dass diese Milizen im Grunde als Kanonenfutter angesehen werden und wir können mit sehr vielen Opfern rechnen, wenn sie nicht in großer Zahl überlaufen oder sich ergeben", sagte Tronvoll der Deutschen Welle.

Der 2019 noch für seine Aussöhnungspolitik mit Eritrea mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Abiy forderte militärische Unterstützung aus den Regionen, nachdem die ehemalige Regierungspartei von Tigray, die TPLF, die Regionshauptstadt Mekele zurückerobert und die äthiopische Regierungsarmee im Juni von dort verdrängt hatte.

Tigray-Rebellen starten neue Angriffe

Derzeit dringen TPLF-Rebellen in die von Amhara besetzten Gebiete von Tigray sowie in die Region Afar ein. Von den neuen Gefechten in Afar seien mehr als 70.000 Menschen betroffen, sagte ein Vertreter der äthiopischen Katastrophenschutzbehörde der Nachrichtenagentur AFP. 

Der in den Vereinigten Staaten ansässige Äthiopien-Analyst Yohannes Woldemariam sagte der DW, Afar sei sehr strategisch, weil die Straße und die Eisenbahnlinie von der Hauptstadt Addis Abeba nach Dschibuti dort hindurchführen. "Wenn die TPLF es also schafft, die Eisenbahnlinie abzuschneiden, dann hätte die Zentralregierung keinen Zugang zum Hafen", so Woldemariam.

Karte Äthiopien Region Tigray DE

Melisew Dejene von der Hawassa Universität in Äthiopien zeigt sich nicht überrascht, dass verschiedene Kräfte aus verschiedenen Regionen zusammenkommen, um das nationale Interesse zu verteidigen: "Die TPLF wurde in einem kürzlichen Kabinettsbeschluss als terroristische Gruppe eingestuft, und nun ist sie zu einer Bedrohung für die Nation geworden", sagte er der DW. Dejene sieht die Unterstützung der verschiedenen Regionen für Abiys Truppen als ein "positives Zeichen", dass "die Menschen unter einer Flagge zusammenkommen, um ihre Nation, Äthiopien, zu verteidigen".

Gefährliche Rhetorik

Seitdem sich die äthiopischen Truppen aus Tigray zurückgezogen haben, herrscht in der Region wieder ein totaler Kommunikationsstillstand: Telefon und Internet sind abgeschaltet - ähnlich wie zu Beginn des Konflikts. Die Regierung hat auch Journalisten, die über Tigray berichten, strenge Beschränkungen auferlegt.

Äthiopien Premierminister Abiy Ahmed
Premierminister Abiy: Vom Friedensnobelpreisträger zum KriegsherrnBild: Tiksa Negeri/REUTERS

"Es könnte sich eine sehr gefährliche Situation entwickeln, wenn sich so viele Gruppen bekämpfen, die ihre eigenen Probleme und Agenda haben", sagt Äthiopien-Experte Woldemariam. "Das sieht aus wie ein Rezept für etwas wirklich Katastrophales. Es könnte Ruanda sehr klein aussehen lassen", befürchtet Woldemariam. In Ruanda kam es 1994 zu einem Völkermord bei dem etwa 800.000 Menschen starben.

Ins Bild passt auch ein Tweet von Abiy, in dem er Wörter wie "Unkraut", "Krebs" und "Krankheit" im Zusammenhang mit der TPLF benutzte. Aus Sicht des Osloer Konfliktforschers Tronvoll eine gefährliche Wortwahl, da sie offensichtlich der Völkermord-Rhetorik von Ruanda ähnelt.

Adaptiert aus dem Englischen von Martina Schwikowski.