Stutthof-Prozess: Bericht aus einer Tötungsmaschinerie
6. September 2022Eine Stunde lang schildert Chaim Golani per Video-Schalte aus Israel seine Erinnerungen an das deutsche Konzentrationslager in der Nähe von Danzig. Das stundenlange Appell-Stehen in der Dezemberkälte. Die Angst davor, von SS-Männern verprügelt und ausgepeitscht zu werden. Die Schale dünner Brühe und das Stück Brot, das Häftlinge als Tagesmahlzeit erhielten. Golani war damals 13 Jahre jung und Stutthof bereits sein drittes Lager. Seine Familie sollte er bis auf seinen Vater nie wieder sehen. Sie wurden in Litauen von den Deutschen ermordet.
Sklavenarbeit im Krematorium des KZs
Besonders erdrückend für die Mithörenden im Landgericht Itzehoe waren Golanis Erinnerungen aus dem Herzen der "Tötungsmaschinerie" Stutthof. Bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft im Dezember 1943 wurde er zur Sklavenarbeit im Krematorium des KZs gezwungen. Dort musste er die Leichen anderer Häftlinge auf Wertgegenstände durchsuchen, ihre Schuhe abnehmen und sortieren.
"Den Gestank kann man sich nicht vorstellen, es war so schrecklich", sagt er, greift nach einem Taschentuch. Auf die Frage der Staatsanwältin, ob er noch Wunden aus dieser Zeit trage, antwortet er: "Körperlich nicht, zum Glück. Aber meine ganze Seele ist eine Wunde."
Hilfe bei systematischer Tötung
Zu der Zeit war die damals 18-jährige Irmgard F. in Stutthof im Dienst. Sie war die Sekretärin des Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe und steht deshalb seit Oktober 2021 vor Gericht. Laut Anklage der Staatsanwaltschaft soll sie "in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft [...] Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet haben". Über ihren Schreibtisch sollen auch Befehle von Exekutionen und Fernschreiben über Deportationen aus Warschau nach Stutthof oder aus Stutthof nach Auschwitz-Birkenau gegangen sein.
Von der Tötungsmaschinerie, der in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes Zehntausende zum Opfer fielen, will F. nichts gewusst haben. Sie leugne nicht die Shoa, habe jedoch keine Schuld auf sich geladen. Das ließ sie anfangs des Prozesses von ihrem Anwalt kundtun. Seitdem schweigt sie. Auch an diesem Dienstag. Mal schaut die 96-jährige mit einer FFP2-Maske vor Mund und Nase auf den Bildschirm, mal auf ihre Armbanduhr. Nur sichtlich irritiert wirkt sie, als Golani behauptet, er könne sich an sie erinnern.
"Wir hatten Angst vor dieser Frau"
Golani sagt, er könne sich an eine Frau in SS-Uniform und Stiefeln erinnern, die einen hochrangigen SS-Mann - den "Kommandanten" - immer begleitete. Ihn habe sie auf zu bestrafende Häftlinge hingewiesen. "Wir hatten Angst vor dieser Frau. Angst, ihr in die Augen zu schauen."
Dass es sich bei dieser Erinnerung um F. handelt, gilt allerdings unter Prozessbegleitern als unwahrscheinlich. Nach bisherigen Erkenntnissen spricht kaum etwas dafür, dass sich der Kommandant mit einer Zivilangestellten wie F. unter die Häftlinge begeben haben könnte. Golanis Anwalt, Hans-Jürgen Förster, erklärt, die Aussage reflektiere lediglich die "Machtfülle", die Häftlinge bei einem Befehlshaber - vermutlich aber nicht dem Lagerkommandanten - wahrgenommen hätten. Es sei also ein "Erinnerungsfehler".
Der Wettlauf gegen die Zeit in NS-Prozessen
Auch der 92-jährige Golani räumt später ein, dass er nicht mehr in der Lage sei, den Kommandanten oder seine Begleitung genauer zu beschreiben. Das liege auch daran, dass er aus eigener Erfahrung wusste, "dass es lebensgefährlich werden konnte, SS-Personal ins Gesicht zu schauen". Andere Punkte seiner Aussage bleiben ebenfalls offen. Beispielsweise das Datum der Ankunft Golanis und seines Vaters im KZ. Golani gibt an, es sei im Winter gewesen. Akten der Gedenkstätte Stutthof legen nahe, dass er zwischen August und September im Lager eingetroffen war.
Fast 80 Jahre nach den Ereignissen werden sich Golanis Erinnerungen kaum verifizieren lassen. Das ist jedem Gericht bewusst, dass späte NS-Prozesse verhandelt. Wichtig sei vor allem, dass die Betroffenen noch die Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen, sagt Anwalt Onur Özata, der drei weitere KZ-Überlebende vor Gericht vertritt. Denn die Zeit läuft davon: Von 31 ursprünglichen Nebenklägern, Opfern und Familienmitgliedern, sind noch 29 am Leben. Ein Urteil ist jedoch nicht absehbar.
Chaim Golanis Geschichte wäre ohne den Prozess nie an die Öffentlichkeit gelangt. Zunächst hatte er jedoch nicht aussagen wollen. Erst nach mehreren Besuchen konnten der Direktor des Simon Wiesenthal Centers in Israel, Efraim Zuroff und dessen Frau ihn überreden. Nun sei er erleichtert, sagt Golani nach seiner Zeugenaussage im DW-Interview. Und ihm ginge es gar nicht mal um F.: "Ich habe es für meine Mutter, meine Schwestern, für die Opfer der Shoah getan. Jetzt ist es gut."