96-jährige KZ-Sekretärin nach Flucht in U-Haft
30. September 2021Nach Angaben der Gerichtssprecherin hatte die 96 Jahre alte Angeklagte ihr Heim in Quickborn (Kreis Pinneberg) am Morgen in zunächst unbekannte Richtung verlassen. "Sie hat ein Taxi genommen." Wie sich herausstellte war eine U-Bahn-Station in Norderstedt am Hamburger Stadtrand ihr Ziel.
Gegen Mittag wurde Irmgard F. dann an der nördlichen Stadtgrenze Hamburgs gefasst. Die Polizei führte sie anschließend dem Gericht vor. Laut Itzehoer Landgerichts sollte ein Arzt die Hafttauglichkeit der Frau prüfen. Am Abend teilte Gerichtssprecherin Frederike Milhoffer mit: "Das Gericht hat der Angeklagten den Haftbefehl verkündet. Sie wird nun in die Untersuchungshaftanstalt verbracht." Die Haft sei "bis auf weiteres" angeordnet worden.
Wegen der plötzlichen Flucht der Angeklagten hatte das Landgericht die Verhandlung auf den 19. Oktober vertagt.
Das Gericht werde alle notwendigen rechtsstaatlich zulässigen Maßnahmen treffen, damit die Angeklagte zu dem Verhandlungstermin im Oktober erscheine, so die Sprecherin. Geplant sind zunächst 27 Hauptverhandlungstermine bis Juni 2022, an denen die Angeklagte stundenweise teilnehmen sollte. Das Gericht gab sich überrascht: "Aufgrund des Alters und der Gebrechlichkeit der Frau war für das Gericht nicht vorhersehbar, dass die Angeklagte sich dem Verfahren aktiv entzieht", so die Gerichtssprecherin.
Angeklagte kündigte Nichterscheinen an
Allerdings hatte die Angeklagte Irmgard F. dem Gericht bereits in einem Brief mitgeteilt, dass sie nicht zum Verfahren erscheinen werde. Wie es heißt, habe der Richter ihr geantwortet und F. die Konsequenzen eines Nichterscheinens erklärt.
"Die Flucht der Angeklagten ist eine zynische Verachtung der Überlebenden, aber auch des Rechtsstaats", sagte Christoph Heubner, Schriftsteller und Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Diese Haltung des Schweigens, Verachtens und Zerstörens sei genau die Haltung, die der SS innegewohnt habe.
Vorwurf: Beihilfe zum tausendfachen Mord
Der ehemaligen KZ-Sekretärin Irmgard F. wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen. Als junge Stenotypistin und Schreibkraft in der Kommandantur von Stutthof soll sie zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet haben.
Es müsse genau geklärt werden "von welchen Kenntnissen im Hinblick auf das Mordgeschehen auszugehen ist und inwieweit diese dann für den Vorwurf einer Beihilfe zum Mord ausreichen", sagte ihr Verteidiger Wolf Molkentin der Deutschen Welle.
In dem deutschen KZ bei Danzig und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen zu Kriegsende starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg rund 65.000 Menschen.
nob/AR (dpa, afp)