Studie: Polizeigewalt nur unzureichend erfasst
16. Mai 2023Übermäßige polizeiliche Gewalt wird in Deutschland nur selten aufgearbeitet. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Das Forschungsteam interviewte mehr als 3300 Betroffene sowie Polizeikräfte, Richter und Mitarbeiter von Opferberatungsstellen. Die Befragten berichteten vor allem im Hinblick auf Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspiele von übermäßiger Polizeigewalt. Ebenfalls oft genannt wurden Konfliktsituationen oder Personenkontrollen.
Am häufigsten gaben junge Männer an, polizeiliche Gewalt erfahren zu haben. 19 Prozent der Betroffenen berichteten demnach von schweren physischen Verletzungen. Psychische Belastungen spielten ebenso eine Rolle. Wut, Angst vor der Polizei, das Meiden bestimmter Situationen oder Orte sowie der Verlust des Vertrauens in den Rechtsstaat wurden dabei genannt.
Stress, Überforderung, Diskriminierung
Bei der Anwendung übermäßiger polizeilicher Gewalt spielen laut Studie sowohl "individuelle wie auch situative und organisationale Faktoren" eine Rolle. Begünstigend wirkten etwa Mängel in der Kommunikation, Stress, Überforderung, aber auch diskriminierendes Verhalten von Beamten.
Rechtswidrige polizeiliche Gewalt wird laut Studie nur selten angezeigt. Als Gründe nannten die Betroffenen Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Einsatzkräfte, fehlende objektive Beweise und die Sorge vor Repressionen. Zudem gaben mehrere Rechtsanwälte an, häufig von einer Anzeige abzuraten. Sowohl von Betroffenen wie auch von Polizisten wurde überdies berichtet, dass die Aufnahme von Strafanzeigen gegen Polizeibeamte "in Polizeidienststellen mitunter verweigert" werde.
"Ein Großteil der Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendungen verbleibt dadurch im Dunkelfeld", erklärte Studienautor und Kriminologieprofessor Tobias Singelnstein. Nur 14 Prozent der befragten Betroffenen gaben demnach an, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe.
"Besondere Erledigungspraxis"
Strafverfahren zu Verdachtsfällen rechtswidriger Polizeigewalt werden außerdem zu mehr als 90 Prozent von den Staatsanwaltschaften eingestellt, nur in etwa zwei Prozent der Fälle wird Anklage erhoben. Die Studienautoren sprechen hier von einer "besonderen Erledigungspraxis". Strukturelle Besonderheit dieser Verfahren sei unter anderem, dass es für Polizeikräfte herausfordernd sei, Kollegen zu belasten.
Für die zuständigen Staatsanwälte erweise sich angesichts der alltäglichen engen Zusammenarbeit mit der Polizei eine unvoreingenommene Herangehensweise an solche Verfahren als schwierig, heißt es in der Studie. Einschlägige Verfahren seien zudem oft von einer schwierigen Beweislage gekennzeichnet. Häufig stünden Aussagen der Betroffenen denen der einsatzbeteiligten Polizisten gegenüber und es fehle an weiteren Beweismitteln.
"Definitionsmacht der Polizei"
"In den auf eine polizeiliche Gewaltanwendung folgenden Auseinandersetzungen um die Bewertung der Gewalt in Gesellschaft und Justiz erweist sich die polizeiliche Deutungsweise angesichts dieser Umstände als besonders durchsetzungsfähig", fasst das Forschungsteam seine Ergebnisse zusammen. Daraus ergebe sich die besondere Definitionsmacht der Polizei.
Singelnstein beklagt, dass in den Gesetzen nicht explizit stehe, welche "einfache körperliche Gewalt" Polizisten erlaubt sei. "Aktuell wird sehr intensiv über Schmerzgriffe diskutiert." Man sehe, dass die Polizei in den verschiedenen Bundesländern abweichende Leitlinien habe. "Manche sagen, wir wenden gar keine Schmerzgriffe an, andere haben das sehr stark in die Praxis übernommen."
Statistische Lücken
Während in einigen Staaten transparent erfasst werde, wie häufig und in welcher Form die Polizei Gewalt ausübe oder wie häufig Menschen im Kontext von Polizeieinsätzen zu Tode kämen, gebe es in Deutschland statistische Lücken. Eine solide Datenbasis "wäre schon mal ein erster wichtiger Schritt", so Singelnstein.
Die Autoren weisen darauf hin, dass ihre Stichprobe nicht repräsentativ ist und die Ergebnisse somit nicht auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden können. Angesichts der Anzahl der Befragten und der Bandbreite der geschilderten Fälle habe man aber "grundlegende Erkenntnisse" gewinnen können. Das Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
jj/ww (dpa, afp, kviapol.uni-frankfurt.de)