Streit um Schädel
6. April 2018Felix von Luschan glaubte vermutlich nicht, dass er etwas Unrechtes tat. Nachdem der Anthropologe 1885 Direktorialassistent am Museum für Völkerkunde in Berlin wurde, startete er eine gigantische Sammelaktion. In seinem Auftrag sammelten Europäer in verschiedenen Kolonialgebieten tausende Schädel. Damit wollte Luschan - wie andere Wissenschaftler seiner Zeit - die Entwicklung der Menschheit erforschen.
Heute gibt es noch rund 5500 Schädel und Gebeine aus der Luschan-Sammlung. Über Umwege sind sie in den Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gekommen - "ein schwieriges Erbe", wie Präsident Hermann Parzinger unumwunden zugibt. Denn Respekt vor der Totenruhe kannten die Sammler nicht: Es habe eine regelrechte "Sammelwut" geherrscht, sagt der Archäologe Bernhard Heeb. "Es kam vor, dass Schädel aus Grabstätten entnommen wurden, teilweise bei Nacht und Nebel. Manchmal waren menschliche Überreste aber auch unter freiem Himmel zu finden. Diese einfach so mitzunehmen ist aus heutiger Sicht natürlich auch ein Unding", sagt Heeb zur DW.
In Einzelfällen bekamen die Sammler Schädel wohl auch geschenkt. Auch Missionare und Verwaltungsbeamte schickten Schädel an deutsche Forschungseinrichtungen, oft sogar ohne konkreten Auftrag. Kolonialsoldaten schicken die Köpfe ermordeter Einheimischer ins damalige Deutsche Reich.
Nachfahren wollen würdevolle Bestattungen
Nun liegen noch immer tausende Schädel und Gebeine in deutschen Archiven Für diese lange kein Thema - für die Nachfahren in Afrika aber umso mehr. "Viele Menschen, die ich kenne, finden es schrecklich, dass sie ihre Vorfahren noch nicht würdevoll begraben konnten", sagt Mnyaka Sururu Mboro. Mit seinem Verein "Berlin Postkolonial" recherchiert der gebürtige Tansanier seit Jahren zum Thema.
Deutsche Museen ignorierten lange die dunkle Vergangenheit, die in ihren Archiven schlummerte. "Die deutsche Kolonialvergangenheit war lange Zeit durch die Verbrechen des 20. Jahrhunderts, den ersten und den zweiten Weltkrieg und den Holocaust verdeckt", sagt Parzinger. Doch seit einigen Jahren wächst der Druck. Zwischen 2011 und 2014 gab zunächst die Berliner Charité mehrere Schädel und Gebeine an Namibia zurück, die aus dem Völkermord an den Herero und Nama stammen. Auch andere Sammlungen haben bereits menschliche Überreste zurückgegeben.
Suche im Archiv und vor Ort
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zog vergangenes Jahr nach. Sie startete ein Projekt, um die Herkunft und die sogenannten "Erwerbsumstände" von rund 1000 Schädeln zu ermitteln. Ein polnischer Forscher hatte sie im Auftrag Luschans gesammelt. Der Großteil stammt vermutlich aus dem heutigen Ruanda. "Wir haben aber keine Primärdokumentationen wie Inventar- oder Erwerbungsbücher mehr, wir haben augenblicklich nur die Beschriftungen auf den Schädeln selber", sagt Archäologe Heeb, der das Projekt verantwortet. Denn viele Ursprungsdokumente sind längst verloren gegangen.
Für Heeb und sein Team heißt das: Archivarbeit. Listen und Reiseberichte sollen Aufschluss über die Herkunft der Schädel geben. Im nächsten Schritt will er vor Ort forschen, gemeinsam mit afrikanischen Kollegen. Auch die Geschichte der übrigen Schädel soll irgendwann erforscht werden.
"Schädel sollen nicht wieder im Keller landen"
"Wir forschen, um zurückzugeben" sagt Stiftungspräsident Parzinger. Allerdings: Es gibt kein Gesetz, das die Stiftung oder andere Institutionen dazu zwingt. Nur Richtlinien des Deutschen Museumsverbands. Sie empfehlen Besitztümer zurückzugeben, die unrechtmäßig erworben wurden. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz versichert, dass es ihr um einen würdevollen Umgang mit den Gebeinen geht. Nach Abschluss der Forschungen will sie mit den Regierungen der Herkunftsländer das weitere Vorgehen inklusive Rückgaben abstimmen. "Wenn man die menschlichen Überreste in den Herkunftsländern wieder bestatten will, dann ist das für uns in Ordnung. Aber ich finde, sie sollten nicht wieder in einem feuchten Keller landen, aus dem wir sie gerade herausgeholt haben", sagt Parzinger.
Aktivisten wie der gebürtige Tansanier Mboro bleiben aber skeptisch. "Man sagt immer, man müsse erst prüfen, ob die Schädel illegal nach Deutschland gekommen sind. Bei diesem Ansatz kann man immer Gründe finden, die Schädel hierzubehalten." Aus seiner Sicht sei es kein Problem, die Herkunft der Schädel zu ermitteln. Man müsse dafür die Menschen vor Ort einbinden. "Es gibt viele Menschen in Tansania, die wissen, wo ein Mensch geköpft und sein Schädel nach Deutschland gebracht wurde".
Ähnliche Debatten bald in ganz Europa?
Manche Gräber seien sogar entsprechend markiert worden, sagt der tansanische Historiker Reginald Kirey. "Die Familie von Chief Songea hat das Grab bewusst in zwei Hälften gestaltet - eine Hälfte für den Körper und eine Hälfte für den Kopf, die noch leer ist". Tansanias Regierung prüft nach Medienberichten, den Kopf des berühmten traditionellen Herrschers zurückfordern. Kolonialsoldaten hatten ihn 1906 getötet.
Es sei wichtig, den genauen Ursprung der Schädel zu erforschen, sagt Kirey zur DW. Dabei sollten die Familien und Clans der Menschen im Vordergrund stehen: "Man muss den Menschen zuhören und herausfinden, was sie wollen. Sie müssen die Richtung vorgeben, wie die Schädel gesucht und wie sie zurückgegeben werden müssen. Dieser ganze Prozess muss ihren Traditionen entsprechen", sagt Kirey, der derzeit an der Universität Hamburg über die deutsche Kolonialgeschichte in Tansania promoviert.
Das Projekt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist zunächst auf zwei Jahre angelegt. Die Schädel-Debatte könnte weitaus länger dauern - und bald nicht nur deutsche Museen betreffen. "Solche Schädelsammlungen gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in London und Paris. Auch dort wird es irgendwann Thema sein", sagt Parzinger.