Streit um neue Schulden in der Ampel-Koalition
16. Juni 2022Der Termin stand seit Wochen fest: Am 22. Juni wollte Bundesfinanzminister Christian Lindner seinen Entwurf für den Haushalt 2023 ins Kabinett einbringen. Abgesegnet von der Bundesregierung sollte die Vorlage in den Bundestag gehen, der am Ende über das Budget entscheidet. Erstmals seit Ausbruch der Corona-Pandemie sollte der Haushalt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse wieder einhalten, also weitgehend ohne neue Kredite auskommen.
Doch Lindner wird mit seinem Haushaltsentwurf nicht pünktlich fertig. Immer wieder erreichen ihn zusätzliche Budget-Forderungen aus verschiedenen Ministerien, die sich inzwischen auf rund 25 Milliarden Euro summieren. Für den Energie- und Klimafonds, aus dem Maßnahmen zum Klimaschutz finanziert werden sollen, werden sogar Mehrausgaben bis zum Jahr 2026 in Höhe von rund 72 Milliarden Euro gefordert.
Für Christian Linder geht es um seine Glaubwürdigkeit
Finanzierbar wären die Forderungen nur über neue Kredite. Die lehnt FDP-Chef Linder ab. Die Rückkehr zur im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse ist für ihn "nicht verhandelbar". Ein ausgeglichener Haushalt ist das Mantra des Liberalen, seine rote Linie, hinter die er nicht zurückkann. Käme es anders, stünde seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.
Bei den Sozialdemokraten und den Grünen weiß man das. Die Rückkehr zur Schuldenbremse war der sprichwörtlich saure Apfel, in den SPD und Grüne beißen mussten, um mit der FDP eine Regierungskoalition schmieden zu können. Dazu kam der Verzicht auf Steuererhöhungen, die die Liberalen ablehnen.
Wer soll das bezahlen?
Doch nun heißt es aus den rot-grünen Reihen, die Lage habe sich geändert: "Deutschland hat als größte Volkswirtschaft Europas eine besondere Verantwortung in diesen Zeiten", mahnt der haushaltspolitische Sprecher der Grünen, Sven-Christian Kindler auf Twitter. "Wenn eine Notlage besteht, darf man im Haushalt nicht den Rotstift ansetzen und eine Normalität suggerieren, sondern man muss aktiv handeln und das Notwendige auch finanzieren."
Der Krieg in der Ukraine hat gravierende Folgen. Die Energiepreise sind explodiert, die Inflation ist so hoch wie seit 50 Jahren nicht. Maßnahmen wie der umstrittene Tankrabatt, das Neun-Euro-Ticket oder der Heizkostenzuschuss reichen absehbar nicht aus, um die Bürger finanziell zu entlasten. Doch woher soll das Geld kommen, wenn Deutschland ab dem kommenden Jahr wieder sparen sollte?
Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden
Die Frage der Finanzierung sei berechtigt und "sehr ernst", sagte SPD-Chefin Saskia Esken kürzlich gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel" und fügte hinzu: "Über die Schuldenbremse oder andere Wege der Finanzierung werden wir in der Koalition sprechen müssen." Bei SPD und Grünen wächst die Angst, dass es am Ende nicht für alles reichen könnte. "Für die SPD ist klar: Keines der sozialen Projekte, keines der Zukunftsprojekte, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, darf wackeln", betonte Esken am 3. Juni nach einer Sitzung des SPD-Präsidiums.
Doch jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. "Für alle wünschenswerten und sinnvollen Vorhaben gilt die Schuldenbremse und damit die Notwendigkeit der politischen Priorisierung", kündigte Christian Linder im Bundestag an. Doch wer legt fest, was wichtig ist? Während für die FDP Themen wie Digitalisierung und Bildung ganz oben stehen, sind es für die Grünen Umwelt und Klima. Bei der SPD schließlich hat die Sozialpolitik Vorrang vor allem anderen.
Deutschland hat mehr als 2,3 Billionen Euro Schulden
In dieser Gemengelage sehen sich die Liberalen als die einzig wahren Gralshüter einer soliden Finanzpolitik. "Unsere Koalitionspartner neigen gelegentlich zum finanzpolitischen Abenteurertum", wetterte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai kürzlich in einem Interview mit der "WAZ". "Es kann aber nicht sein, dass sich zwei Partner in dieser Koalition ständig Projekte ausdenken und der dritte sich mit der Frage beschäftigen muss, wie diese Projekte finanziert werden."
Die Schuldenbremse wurde in Deutschland 2009 beschlossen. 2014 schaffte es der Bund erstmals wieder, ohne neue Kredite auszukommen. In den Jahren darauf wurde die sogenannte "Schwarze Null" zur Selbstverständlichkeit. Doch dann kam die Corona-Pandemie und nun ist Krieg in der Ukraine. 2022 verschuldet sich der Bund zusätzlich mit fast 140 Milliarden Euro, was die gesamtstaatliche Verschuldung auf fast 2,4 Billionen Euro treibt.
Schuldenbremse und Inflation
Was würde es für die hohen Preissteigerungen bedeuten, wenn die Schuldenbremse wieder gelten würde Unter Finanz- und Wirtschaftswissenschaftlern gehen die Meinungen auseinander. Finanzminister Christian Lindner stellt sich auf die Seite derer, die der Schuldenbremse eine positive Wirkung attestieren. Dort wird argumentiert, dass, wenn der Staat spart, die Menschen das ebenfalls tun.
Wenn weniger Produkte verkauft werden, also die Nachfrage sinkt, gibt es keine Knappheiten mehr und das lässt die Preise automatisch sinken. "Die Teuerung ist eine echte Gefahr", schreibt Lindner auf Twitter. "Was wir also dringlich tun müssen: Druck von den Preisen nehmen, Menschen gezielt entlasten - und so schnell wie möglich zur Schuldenbremse zurückkehren."
Ökonomen wie Gustav Horn sehen das ganz anders. Es gebe derzeit keinen Nachfrageboom, weil die Arbeitseinkommen in den vergangenen Jahren nur maßvoll gestiegen seien, schreibt Horn in der SPD-Parteizeitung "Vorwärts" und bezeichnet es als "schlicht unnötig", die Nachfrage durch eine "sparwütige Fiskalpolitik" zu bremsen. "Es ist sogar gefährlich, denn mit einem solchen Kurs droht ein konjunktureller Absturz mit hoher Arbeitslosigkeit als Folge."
Ampel war keine Wunschkoalition
Da sich die Koalition bislang nicht einigen konnte, hat Christian Lindner den Termin für die Haushaltsvorlage im Kabinett erst einmal vom 22. Juni auf den 1. Juli verschoben. Doch werden sich SPD, Grüne und FDP bis dahin geeinigt haben? "Wenn wir es schaffen, gemeinsam die Dinge voranzutreiben, kann das ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein sein: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können", formulierten die drei Parteien im Koalitionsvertrag.
Die Ampel sei nie die Wunschkoalition seiner Partei gewesen, sagt der FDP-Generalsekretär heute. Die Liberalen seien sie vor allem aus staatspolitischer Verantwortung eingegangen. "Jetzt müssen wir das Beste daraus machen." Die FDP setzt auf den Bundeskanzler. Sie sieht in Olaf Scholz einen Verbündeten, da sich der frühere Bundesfinanzminister immer wieder zur Schuldenbremse ab 2023 bekannt hat.
Das weiß auch SPD-Chefin Saskia Esken, die es im Übrigen normal findet, dass die Ampel-Parteien ihre unterschiedlichen Vorstellungen regelmäßig "auch mal öffentlich" austauschen. Die Unterschiede zwischen SPD, Grünen und FDP seien groß. Trotzdem ist sich Esken sicher: "Am Ende kommen wir zusammen."